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Helmuth Schönauer
Wiki-Treffen in Innsbruck
Ein Bericht

Der moderne Mensch ist vorinstalliert. Wer nach 2000 geboren ist, für den bedeutet das morgendliche Aufwachen: – Strom, Office und Wikipedia zu haben. Nur ältere Menschen können sich vorstellen, dass man beim Aufstehen zuerst den eigenen Körper einschaltet und später schaut, auf welche Überlebens-Ressourcen man zugreift.

Dabei sind die drei Vorinstallationen so selbstverständlich geworden, dass man nicht mehr darüber nachdenkt.

Der Strom kommt vom Landeshauptmann, er sorgt sich persönlich darum, dass er da ist, indem er ständig neue Kraftwerke bauen lässt und der TIWAG manchmal in die Speichen greift, wenn sie ihren Stromtarif ungünstig kommuniziert.

Die zweite Lebensinstallation zeigt sich beim Öffnen des Laptops. Wie Werner Schandor in diesem Medium erörtert hat, wird das Office vor allem in den Schulen vorinstalliert, sodass niemand auf die Idee kommt, dass es auch andere Möglichkeiten gäbe, gratis und opensource mit seinen Dateien zu spielen und sie zu archivieren.

https://schoepfblog.at/werner-schandor-moloch-microsoft-essay/

Und der dritte vorinstallierte Gott nennt sich Wikipedia. Über hundertmal am Tag schwenkt ein Durchschnitts-User mit der Maus auf dieses digitale Lexikon, um die eigene Denkarbeit inspiriert fortzusetzen. Die Buch-Lesenden haben mittlerweile Wikipedia am Tablet installiert und schauen während der Lektüre ständig nach, was das Gelesene bedeuten könnte. Und meist verkürzen sie den Leseabend, indem sie das Buch weglegen und in Wikipedia weiter surfen.

Im August 2023 war nach dreijähriger Pause dieser geheimnisvolle Wiki-Wissensgott zu Gast in Innsbruck, und hat einen physisch mit Körpern unterlegten Abend des Informationsaustausches ermöglicht.

Wie bei einem Blind-Date treffen sich neun Wiki-Schreiber rund um einen Gasthaustisch und freuen sich, dass sich die Schwarm-Intelligenz manchmal voller Frohsinn und Zuversicht zeigt, indem sie als echte Menschen auf der Erde auftritt.

Das Ergebnis dieses Treffens ist auf der Wiki-Seite nachzulesen.

https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Innsbruck

Als aufgeklärter Wiki-Nutzer sollte man manchmal in den Betriebs- und Meta-Seiten der Enzyklopädie stöbern, denn Wissen bedeutet ja auch Veränderung in der Anwendung von Information. Jeder Eintrag hat nämlich eine Entstehungsgeschichte, sie ist mindestens so interessant wie der momentan gültige Artikel.

Während die großen Wiki-Themen weltweit im Schwarm diskutiert werden, wirken sich diese Dispute auf die Individuen recht menschlich aus.

Wikipedia Österreich und Regio-Wiki Österreich sind als gemeinnütziger Verein registriert und unterliegen dem Vereinsgesetz. Das angereiste Vorstandsmitglied berichtet von etwa 500 aktiven Mitgliedern, die regelmäßig an den Einträgen des Lexikons ehrenamtlich arbeiten. Auf die magischen zehn Prozent des Tirolertums heruntergebrochen heißt es, etwa 50 Menschen arbeiten in Tirol aktuell an Wikipedia.

Die größten Alterskohorten sind jene um siebzig und dreißig.

Die jetzt Siebzigjährigen haben das deutschsprachige Wikipedia fundamental aufgebaut, indem sie ihr Fachwissen aus Schulfächern, Uni-Instituten, Chroniken und Journalismus zu straffen Einträgen verdichtet haben. Die meisten Autoren stammen aus dem Cluster der Schulmänner, wie diese Gruppe im vorigen Jahrhundert streng genannt wurde.

Die jetzt Dreißigjährigen stammen aus den Sektoren Digitalisierung, Netz, Datenverwaltung, Cloud-Management und Startup-Controlling. Ihr Bestreben ist es, den Fortschritt der Digitalisierung auf brauchbare Anwendungsmodelle herunterzubrechen.

Auf Nachfrage äußern sich die anwesenden Profis zu diesem Widerspruch Containment versus Content.

Ein Physikexperte leidet darunter, dass die neue Generation von Administratoren dermaßen exakt arbeitet, dass die Texte letztlich aus Überkorrektheit zu Nullaussagen werden. Der Eintrag ist zwar fachlich richtig, aber niemand versteht ihn.

Ein Literaturexperte berichtet, dass nach Covid viele Literatureinträge getilgt worden sind, weil der Verdacht auf Schwurblerei naheliegt. In der jüngeren Generation ist die Meinung stark verbreitet, dass es sich bei Literaturwissenschaft um keine echte Wissenschaft handle, da das Grundmaterial Literatur ja aus subjektiver Fiktion besteht.

Ein Biologe, der etwa siebenhundert Einträge über Frösche beobachtet, musste in den letzten Jahren immer wieder Klassifizierungen verändern, weil sich einfach der Wissensstand erweitert, obwohl jeden Tag ein paar Frösche aussterben und den Eintrag nostalgisch werden lassen!

Ein Musiker berichtet, dass er in der Hauptsache mit nachweisbaren Zitaten aus diversen Fachquellen arbeitet, dennoch sei ein Artikel erst dann halbwegs gültig, wenn der Musiker gestorben sei.

Diese ständigen Veränderungen im wissenschaftlichen Kosmos führen zwischendurch zu unlösbaren Diskussionen, die vom Schiedsgericht irgendwie bewältigt werden sollen.

Der Vertreter des Schiedsgerichtes weist darauf hin, dass die Beiträger mit der Zeit sich geradezu vom Zeitgeist entkoppeln müssen, wenn ihr Beitrag aus der aktuellen Materie in jene des Archivs übersiedelt. Zu einer guten Wissenschaft gehört es, dass man sie nicht persönlich vereinnahmt, sondern sich rechtzeitig wieder von ihr trennt, wenn sie zu sehr zum persönlichen Lebensprogramm wird.

Generell lässt sich sagen, dass das Fundament der Wikipedia recht tragfähig ist, seit sie im Zweifelsfalle das Enzyklopädische vor das Individuelle stellt.

Die häufigste Frage an den Vorstand ist logischerweise jene nach der Zukunft von Wikipedia. Viele haben Angst, dass Wikipedia eines Tages verkauft wird wie Twitter, oder verunglimpft wird durch Übernahme von Fake-Journalismus.

Der Vorstand beruhigt, der Verein sei gemeinnützig, das Geld werde über Stiftungen abgewickelt, sodass eine feindliche Übernahme unwahrscheinlich ist.

Der gelernte Österreicher stutzt, diese Beruhigungspille hatten wir schon einmal bei der Wiener Zeitung, die letztlich aus Kurzsichtigkeit der Regierung jenseits von Beruhigungsmantras dann doch geschlossen worden ist.

Die große Unbekannte im Wirken der Wikipedia liegt schließlich in der Schwarm-Intelligenz selbst. Wenn diese von KI übernommen wird, ist auch Wikipedia übernommen.

Für alle Glossisten, Essayisten und andere Feuilletonisten gilt: Achte immer auf das Selbstverständliche, das vorinstalliert ist! Unser Denken ist sofort beim Teufel, wenn Strom, Betriebssystem oder Wikipedia den Geist aufgeben.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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