Helmuth Schönauer
Kaiten-Zushi
Die Kultur dreht sich ums Leben oder umgekehrt.
Stichpunkt

Als Kaiten-Zushi werden Sushi-Restaurants bezeichnet, bei denen die Speisen auf einem rundlaufenden Fließband angeboten werden. Im Westen werden Kaiten-Zushi häufig auch als Running-Sushi bezeichnet. (Wikipedia)

Wahrscheinlich denkt niemand beim oberbayrischen Ort Weilheim daran, japanisch Essen zu gehen. Aber gerade dieses unerwartete Aufschlagen auf eine nicht erwartbare Kultur führt meist zu einem exquisiten Erlebnis.

Während ein pensionierter Gewerkschafter und ich einen spontanen Lebensabend genießen, schauen wir dem Sushi-Treiben zu und werden nachdenklich statt hungrig. Unser Lese- und Schreibverhalten als pensionierte Denker lässt sich nämlich mit der Kultur von Kaiten-Zushi vergleichen.

Dabei rennen auf einem Endlos-Band quer durch den Raum die Themen, welche ein abgebrühter Zeitgeist-Koch auf das Förderband gestellt hat.

Die Gespräche finden zwischen Band und Kundschaft statt, selten aber quer zwischen jenen Mitmenschen, die neben einem an der Bar sitzen. Das Running Sushi lenkt alle Aufmerksamkeit auf sich, sodass wenig Zeit bleibt, in Echtzeit zu kommentieren. Diese Gespräche finden  später draußen vor der Tür statt, wenn Blähungen und andere Krämpfe einsetzen.

Ein Glossenschreiber ähnelt einem Gast, der allmählich von einem Drehwurm befallen wird, wenn die Themen ununterbrochen vorbeirollen. In der Hauptsache hat er drei Möglichkeiten, sich diesem Rondell zu stellen.

a) Nach der guten österreichischen Art der Prokopetz-Doktrin: Na, dann ned, ma draht sie um und geht.

b) nach den Regeln der Aufklärung: Man versucht aus These und Antithese etwas unerwartet Vernünftiges zu entwickeln.

c) nach den Gesetzen der Anarchie: Man steigt aus dem Diskurs aus und fasst das Thema in einem subjektiven Emblem zusammen.

Welches Thema welche Methode nach sich zieht, ist vermutlich das Ergebnis der Tagesverfassung.

Der gleiche Effekt spielt sich übrigens beim Publikum ab. Die Themen eines Blogs rauschen in einer großzügigen Scroll-Bewegung am potentiellen Leser vorbei. Manchmal lässt er es nach der Überschrift bleiben. Manchmal greift er zu, indem er sich auf einen Diskurs einlässt. Manchmal verlässt er das Themen-Fressband, um die anstehenden Geistes-Blähungen analog abzulassen.

Das Wesen der Kultur von Kaiten-Zushi ist es, dass es sich um ein Spiel handelt. Weder wird man satt davon, noch ergibt sich daraus eine entscheidende Veränderung für das Leben. Um dies alles zu begreifen, müssen Leser und Schreiber manchmal aus dem Karussell aussteigen, bevor sie vom Drehwurm des Sich-Überfressens vollends erfasst werden.

So wie schließlich die Sushi-Box sich selbst überlassen wird, sollte man auch Schreib- und Lesemedien zwischendurch sich selbst überlassen, wenn Spuren von Schwindelgefühl aufkommen.

Überraschend satt sind wir beide dann wieder aus dem Restaurant hinaus und haben unseren Lebensabend im Sinne einer überschaubaren Rahmenhandlung fortgesetzt.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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