Helmuth Schönauer bespricht:
Andreas Niedermann
Schreiben
Selbstbild mit Tier
Roman
Die echtesten Geschichten sind immer jene, wo jemand das Leben wegwirft, um zu schreiben, und es dadurch erst recht findet.
Andreas Niedermanns Roman vom „Schreiben“ ist letztlich die Geschichte eines permanenten Ein- und Aussteigers im Literaturbetrieb, am ehesten mit einem Schaffner zu vergleichen, der seinen eigenen Zug verpasst. Aber am Schluss erweist sich das Ziel als persönlicher Kopfbahnhof, der schon für die nächste Ausfahrt bereit steht, kaum dass man in ihn eingefahren ist.
Für diesen Gap zwischen Leben und Schreiben, der sich schon seit Jahrhunderten nur schwer überbrücken lässt, hat der Ich-Erzähler übrigens eine tolle Formel: Du musst beides wie ein Tier angehen!
Dieses Tiermotiv, das bereits im Titel als „Selbstbild mit Tier“ installiert ist, zieht sich durch den Lebensroman. Den ersten „animalischen Anfall“ erfährt der Held, als er für drei Monate auf eine Alm geht und eine Herde hütet. „Ich wurde Tier unter Tieren.“ (56)
Damit kommt er dem Schweizerischen Lebenskern sehr nahe, denn nicht nur in der Literatur, auch bei militärischen Übungen gilt das ausgesetzte viehische Leben jenseits von Heidi als anzusteuernder Zustand. (Man denke etwa an die schönen Inzest-Geschichten von Adolf Muschgs „Zusenn“.)
Diese kanonisierte (= kantonisierte) Schweizer Literatur prägt den heranreifenden Erzähler, er benützt teilweise das gleiche „Suhrkamp-Lesegestell“, das auch in der Bundesrepublik und in Österreich im Umlauf ist, allerdings poppen als Ergänzung dazu regionale Schreibvulkane auf.
Aus der Untergrund-Schweiz spuckt René E. Mueller Poesie-Lava, so dass man ihm das Attribut „Swiss Beatnik“ angehängt. Sein Anti-Roman Engel der Straße (1976) heißt ungeniert gleich wie Frank Borzages Film-Drama aus dem Jahr 1928.
Die Schweiz leistet sich auch einen autochtonen Knastautor, dem sie ähnlich huldigen wie die Österreicher Jack Unterweger. Hans Jägers Wenn ich nicht geschrien hätte (38) dient zumindest als Schreibanleitung für Autoren, die quer zum Literaturbetrieb ihre Karriere entwickeln und verwirken wollen.
Das erste Buch des Erzählers Niedermann ist Bob Dylan nachempfunden und heißt logischerweise Grabsteinentwürfe. Die Verlage tragen ergreifende Namen wie Nachtmaschine, die Texte werden oft auf einer Kurbeldruckmaschine abgezogen und mit Hand geheftet.
Und über allem schwebt Henry Miller, der keinen Unterschied zwischen Leben und Schreiben macht und fallweise in den eigenen Schriften nachschauen muss, wie das Leben nun weitergehen solle.
Aus diesen Lesewurzeln nährt sich nun das weitere literarische Leben, das ständig mit körperlicher Arbeit einhergeht, denn die Kohle wird immer knapp bleiben, solange man dem Bukowski’schen Diktum ausgeliefert ist: „Wir Dichter werden für das Trinken bezahlt.“ Arbeit am Bau, in der Bäckerei, als Bühnenarbeiter, die drei großen B der Maloche, pflastern den Weg.
Anlässlich einer Motorradtour erfährt man, dass am Sozius immer Geliebte draufgeschnallt sind, so in etwa dürfte auch die Prioritätenliste der Beziehungen sein.
Ständig geht was kaputt, eine Liebschaft, ein Motorrad, eine Schreibmaschine, und es entsteht die Idee vom „rückgebauten Unfall“. Der Unfall findet zwar statt, kann aber wie bei einem kindlichen Spiel ungeschehen gemacht werden. – In der Literatur geht das. (52)
Eine Wendung bringt Wien, die Stadt, in der Konrad Bayer sich als 32-Jähriger mit einem Handstreich von allen Lebensprogrammen durch Suizid befreit hat. Der Erzähler kommt mit dem Nachtzug und öffnet die Augen als Schweizer: Diese mickrige Kolchosen-Wirtschaft in Wien in den 1980ern! Alles stinkt nach Kohle und die Lebensmittel sind genossenschaftlich organisiert und in der Vielfalt rationiert.
Jetzt kommt abermals das Tier ins Spiel: Du musst dem Tier in dir die Suche nach einem Lokal überlassen. (127) Kaum ist das richtige Lokal gefunden, baut sich darum herum die Stadt auf und liegt einem zu Füßen.
Der Held findet tatsächlich den ersten Satz für seinen Roman und fährt sofort in die Schweiz zurück. Prekäres Schreiben heißt, das Farbband bis zur Auflösung benützen, es in einer eigenen Kohlemelange immer wieder nachkolorieren, bis alles in Fransen aus der Schreibmaschine hängt. „Ich schrieb mich in ein Loch hinein!“ (93)
Ein Freund will die Veröffentlichungsrechte pro futuro, er glaubt entweder an eine Schreibzukunft, oder spekuliert nach Börsenart und setzt auf Außenseiter-Literatur.
Soeben macht Reto Hänny mit seiner Lehrerliteratur Karriere, alle erfolgreichen Literaturgattungen bedrohen den Beat, den der Autor in die Maschine tippt, bis er dem Roman schließlich den Namen Sauser gibt, eine Hommage an den geschätzten Jörg Fauser, der dem Land und seiner säuselnden Literatur seit Jahrzehnten brachial die Leviten liest.
Und immer wieder ist das Geld aus. Der Erwachsene macht sich kind-klein und fragt die Mutter um Geld. Diese führt eine Art Wirtschaftsbuch in Gestalt verschiedener Kuverts, in denen die Losungen für Strom, Gas und Lebensmittel abgespeichert sind. Die Mutter muss stundenlang sortieren, bis sie wieder Ordnung hat, nachdem sie dem Sohn etwas aus dem Kuvert „Unvorhergesehenes“ zugesteckt hat.
An dieser Stelle versagt die Romantik, mit deren Begriffen die Armut oft übertüncht und als Tugend dargestellt wird Die Lage gleicht dem Sisyphus, bei dem plötzlich der Stein oben am Berg liegen bleibt!
Der Roman braucht noch viel Arbeit, sagt ein Verleger, der damit die Ablehnung des Manuskripts höflich umschreibt. Der bisherige Verlag gibt die Literatur auf und macht nur mehr Comics. Auf Lesetouren wird der Autor als Vorband eingespannt, und die größte Demütigung liegt darin, dass im Hauptprogramm ein richtiges Arschloch wie Mister Kleingeld kommt, das im Original tatsächlich Bargeld heißt.
Allmählich tut sich dem Bühnenarbeiter eine internationale Karriere auf. Für ein israelisches Projekt soll er im polnischen Turun ein KZ nachbauen für Filmaufnahmen und Theater. Alles ist historisch dokumentiert, es ist Kunst und keine Wiederbetätigung. Dennoch bleibt eine gewisse Verwirrung in einer Gegend, die man am besten als Lada mit Wodka beschreibt.
Und am Schluss kommt es wieder, das Tier. Auf die Frage, was dieses Tier bewirkt habe, heißt es lapidar: Zwei Töchter!
Authentische Literatur muss sich eine eigene Literaturgeschichte verschaffen, heißt es im Umgang mit jener Schreibform, die an Rändern, Rainen und Rinnsalen auftritt.
Andreas Niedermann hat seine persönliche Literaturgeschichte geschrieben, sie ist mindestens so groß, wie die Schweizerische, aber zudem noch geeignet, dass man auch anderswo, zum Beispiel in Wien, vor ihr fröhlich in die Knie geht.
Die Formulierung tierisch ernst kann auch etwas Lachhaft-Schönes bedeuten.
Andreas Niedermann: Schreiben. Selbstbild mit Tier.
Bern: Songdog 2022. 192 Seiten. EUR 18,-. ISBN 978-3-903349-16-2.
Andreas Niedermann, geb. 1956 in Basel, lebt in Wien und Wengen.
Wenn Ihnen schoepfblog gefällt, bitten wir Sie, sich wöchentlich den schoepfblog-newsletter zukommen zu lassen, und Freundinnen und Freunde mit dem Hinweis auf einen Artikel Ihres Interesses zu animieren, es ebenso zu tun.
Weitere Möglichkeiten schoepfblog zu unterstützen finden Sie über diesen Link: schoepfblog unterstützen