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Helmuth Schönauer bespricht:
Bernhard Hüttenegger
Eis.Sturm
Vademecum

Im Idealfall der Intimität trifft die Einsamkeit des Lesers mit jener des Autors zusammen. – Ein Eissturm ist der Atem des Todes.(163)

Bernhard Hüttenegger ist auf Abschiedstour, wie man bei darstellenden Künstlern sagen würde, wenn sie sich noch einmal aufraffen, um die letzten Dinge vor Publikum zu rezitieren. 

Für diese vorletzten und letzten Dinge bietet sich die Form des Vademecums an, womit ein kleines Heft gemeint ist, das man mit sich herumträgt, um die wichtigsten Handgriffe für das Leben nachzulesen, wenn man kurz einmal bei der Sinnsuche ansteht.

Bernhard Hüttenegger bearbeitet die letzten Jahre mit drei Biennal-Sprüngen, wie wir sie von der Besoldung in der Beamtenschaft her kennen. Die drei Kapitel 2017-19; (7) | 2019-21 (55) | 2021-22 (133) verschärfen sich zusehends, indem sie allmählich einen Status der Endgültigkeit anstreben. So haben Begriffe ein Ablaufdatum wie die Menschen, die sie verwenden. Mit ihrem Aussterben als Anwendung sterben auch die Menschen aus, die diese Wörter einmal verwendet haben.

Ruderleibchen ist so ein Begriff, den heute niemand mehr benützt, weil alles ein T-Shirt geworden ist, Tagebuch ist vielleicht ähnlich antiquiert, die Begriffs-Fitten sagen elegant Journal dazu. Und der Begriff Vademecum muss heute schon gegoogelt werden, ehe man etwas damit anzufangen weiß.

Mit Absicht greift der Autor auf Vademecum zurück. In seiner Jugend nämlich hat er alle ihm unter die Augen kommenden Bücher als Vademecum gelesen. Bei Robert Walser, Hans Erich Nossack und anderen aus dem magischen Reich des Suhrkamp-Verlags hat er Zeile für Zeile auf die Tauglichkeit für das Leben untersucht. Später ist sein Schreiben selbst zu einem Nutz-Büchlein für seine Fans geworden. Stenotypische Alltagschronik. Selbstpreisgabe. (65)

Neben Aufzeichnungen zur Lektüre sind es vor allem Sammlungen von Fügungen, literarischen Zoten und Sprichwörtern, die die Alltagschronik begleiten. Die Sprüche der Hauptschullehrer der Nachkriegszeit stehen neben Prahlereien literarischer Aufsteiger im Cafe Alt-Wien und jenem seltsamen Fundus, in dem abgelegte Gegenstände noch schnell die Geschichte ihres Scheiterns erzählen. (177)

Zwischendurch artet eine Tageseintragung zu einem Essay aus, wenn etwa ein Requiem auf Papierhandlungen angestimmt wird. Die Tausenden von Nuancen, haptischen Erhebungen, Text-saugenden Partikel und vergilbten Ausleuchtungen von Flächen lassen erahnen, was früher einmal die lesende und schreibende Hand gefühlt hat, wenn sie sich auf den Grundstoff Papier eingelassen hat.

Dieser Abgesang auf vergangene Kulturtechniken und Handwerke verfestigt sich mit der Zeit zu einer Elegie auf den eigenen Körper. In einem Absatz des Verfalls berichtet das erschlaffende Ich von den Kleinigkeiten, welche die Endphase der restriktiven Körperertüchtigung ausmachen. 

Am Morgen kommen die Hände nicht mehr hinunter zu den Schnürsenkeln, um diese zu binden, die Socken werden zu Fremdkörpern, die sich jemand über die Füße gestülpt hat, das Treppensteigen geht in die Arme, weil der Körper mehr am Geländer hochgezogen werden muss, als dass er mit den Beinen arbeitete.

Daneben stehen Arztbesuche auf dem Programm wie früher literarische Auftritte. Beides dauert gleich lang und am Schluss bleibt etwas Optimismus für den nächsten Tag, an dem man sich Wanderstöcke kaufen wird wie einst einen aufregenden Roman.

Fein getaktet sind in diese Verfallsgeschichte des Körpers sogenannte Reminiszenzen eingestreut, dabei werden Recherche-Reisen, Projekt-Rückblicke und die Auswirkung bestimmter Bücher auf das eigene Schreiben beleuchtet.

In einer Analyse des eigenen Werkes kommt Bernhard Hüttenegger ein paar mal auf die Erzählung Rockall zu sprechen, die für ihn als die wichtigste Publikation gilt. Immerhin konnte er noch eine aktualisierte Fassung in der Verlagsszene unterbringen, nachdem die Erstpublikation samt dem damaligen Verlag von der Bildfläche verschwunden ist.

Von der Denkarbeit her gesehen hat ihm vor allem das Opus ultimum Auf dem Grund des Brunnens allerhand abverlangt.

Ein Vademecum wirkt für die Leser auch im Unterbewusstsein, schon längst an anderer Stelle, tauchen immer wieder gerade gelesene Stellen als Mini-Reminiszenzen auf.

Der einzige Vorteil des Lebens auf dem Land: Langsamerer Verschleiß der Substanz; wegen geringerer Wahrnehmungsreize, die es zu verarbeiten gilt. (34)

Und unschlagbar erregend ist immer noch das friedliche Zitat aus den Essays von Montaigne, wonach dieser im Alter den Geschlechtsverkehr im Stehen nicht mehr praktiziert. (90)

Im Idealfall entsteht zwischen Leser und Autor eine lebenslange Übereinstimmung. Zuerst muss mit harter Arbeit das Werk entworfen und ans Licht gebracht werden, damit es der Leser auch zur Kenntnis nimmt, im Spätwerk muss das Werk zurückgenommen und besänftigt werden für die Einordnung in die Geschichte. 

Beide Vorgänge sind Freundschaftsdienste an den Lesern, denen sich Bernhard Hüttenegger nie an den Hals geworfen hat. Dennoch war er ein Leben lang von ein paar von ihnen umringt.

Bernhard Hüttenegger: Eis.Sturm. Vademecum.
Graz: edition keiper 2023. 199 Seiten. EUR 25,-. ISBN 978-3-903322-86-8.
Bernhard Hüttenegger, geb. 1948 in Rottenmann, lebt in Wien und Kärnten.



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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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