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Helmuth Schönauer
Einszweidrei – Verräumung der Deutschmatura durch KI
Notizen

eins

Wer wissen will, wohin die österreichische Literatur im nächsten Jahrzehnt unterwegs ist, sollte sich die aktuelle Zentralmatura in Deutsch vor Augen halten.Darin ist jene Düse formuliert, durch die der literarische Geist eines Jahrgangs gepresst und formatiert wird.

Wer etwa durch die Zentralmatura 2023 gepresst worden ist, wird später einmal beim Lesen oder gar beim Dichten ähnlich ticken wie bei der Matura.


zwei

Einen Aufsatz schreiben kann jeder Trottel, aber das Thema dazu zu finden, das können nur die Fitten. Diese alte Schulweisheit wird einmal im Jahr zu einer gesellschaftlichen Herausforderung, wenn die sogenannte Zentralmatura für Deutsch ansteht.

Seit der flächendeckenden Verbreitung von KI-Programmen reißen also in Österreich an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Zeit Tausende Reife-Aspiranten gegendert ihre Kuverts auf, und geben das Thema in den Laptop ein, der ihnen in der nächsten Viertelstunde die Matura-Arbeit ausspuckt.

Im heurigen Jahr bot das Kuvert die Ziffern eins bis drei an: wer eine davon in den Laptop übertrug, konnte in Echtzeit damit rechnen, die Matura bestanden zu haben.

Hinter den Ziffern 1-3 waren 2023 für das beaufsichtigende Lehrpersonal folgende Matura-Themen in Deutsch hinterlegt.

Thema 1: Sasa Stanisic Herkunft
Verfassen Sie eine Textinterpretation. Text beiliegend.
Verfassen Sie einen Leserbrief über die Freiheit der Kunst. Verwenden Sie dazu den Aufsatz von Gerlinde Tamerl in der TT vom 15.12.22. Text beiliegend.

Thema 2: Sprache im digitalen Zeitalter
Verfassen Sie eine Erörterung Wenn der Computer das Sprechen übernimmt. Text beiliegend. Zusätzlich: Schreiben Sie eine Zusammenfassung zu allem, was sie in der letzten Zeit mit Emojis erlebt haben.

Thema 3: Familie
Verfassen Sie eine Textanalyse zu Viktoria Klimpfingers Artikel Die Oma, der Mythos in der online-Ausgabe der Wiener Zeitung vom 19.11.22. Text beiliegend.
Verfassen Sie einen Leserbrief zum Thema Familiendämmerung von Eric Frey im Standard vom 7.12.19. Text beiliegend.


drei

Eine gute Matura-Arbeit muss drei Personengruppen befriedigen.

a) die Reifenden
Die kommen bei dieser Zentralmatura alle durch, wenn es ihnen gelingt, die Nummer des Themas in den Laptop einzugeben.

b) das Lehrpersonal
Es kann endlich einmal dienstlich die Zeitung lesen, indem es vorgibt, Texte zu korrigieren.

c) die Öffentlichkeit
Diese erfährt von Themen der Zeit, die so beliebig sind, dass sie konfliktfrei als Diskussionsthema durchgehen. Indirekt profitiert die Öffentlichkeit auch durch das Zitieren diverser Zeitungen, die für ein Abo bereitstehen.


Als gelernter Österreicher weiß man, dass es sich bei der Matura um eine Umkosung durch den Staat handelt. Durch einen quasi religiösen Akt legt er Kraft seiner beamteten Lehrerschaft den Kids die Hände auf und segnet sie für das weitere Leben.

Wer schon einmal maturiert hat, weiß, die Kunst der Reife besteht nicht in der Matura, sondern im lebenslänglichen Durchhalten in einem Staat, der einen für reif erklärt hat.

Aus dem geistesverwandten Prag erreicht uns dieser Tage eine sehr befreiende Nachricht: Prager Uni schafft angesichts von ChatGPT Bachelorarbeiten ab – Die steigende Nutzung der KI sei Anstoß gewesen, das bisherige System zu hinterfragen. Es gebe schon jetzt zu viele Plagiate und KI-generierte Arbeiten. DER STANDARD.

Der Überwindung des tradierten Literaturmodells von Reifen für Reife zugunsten einer KI, worin sich die Algorithmen selbst auslesen, steht nichts mehr im Weg.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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