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Helmuth Schönauer bespricht:
Wolfgang Hermann
Bildnis meiner Mutter
Erzählung

Mutter-Literatur ist längst als eigenständiges Genre ausgewiesen, in manchen niedrigschwelligen Buchhandlungen gibt es sogar eigene Mutter-Regale, wo die Bücher über Parade-Mütter ausgestellt sind.

Wolfgang Hermann nennt seine Erzählung Bildnis meiner Mutter und er spielt dabei auf die Porträt-Galerie an, die unter diesem Bildnis-Emblem Meilensteine im Literatursalon ausgehängt hat. Von Peter Handkes Wunschlosem Unglück bis zu Camus Der Fremde mit dem legendären Eingangssatz, heute ist Mutter gestorben. Oder vielleicht gestern, ich weiß es nicht fordert die Mutter jeden Erzähler aufs innigste heraus. 

Neben der Klärung der Mutterbeziehung ermöglichen diese Romane einen raffinierten Zugang zur jeweiligen Zeitgeschichte, zu den Leitbildern der darin ausgerollten Erziehungsmodelle, und schließlich taucht in Gestalt der Mutter etwas Mythologisches auf, wenn es um die Frage geht, wo kommen wir eigentlich her.

Wolfgang Hermann sucht zwei Fixpunkte aus seinem Leben, woran er seine Mutter-Erinnerung im Sinne eines fiktiven Textes hängt. Einmal macht er 1994 im Süden Frankreichs einen Schreiburlaub und wird von der Landschaft aufgekratzt und ruhig gestellt zugleich, sodass er den Text über die Mutter mit einer aufgeregten Noblesse zu schreiben imstande ist, als ob er sie wie eine Landschaft betrachten dürfte.

Zum anderen hat er 2022 nach dem Tod der Mutter plötzlich die poetische Kraft, den Text als Erzählung, Erinnerung und biographische Studie professionell abzuschließen. Zwischen dem intimen Erinnerungsvorgang und dem kalten Beschreibungsakt ist die Erzählung eingebettet wie ein gezähmter Fluss in einer gezähmten Landschaft.

Die Geschichte lässt sich unter drei Aspekten lesen:
a) als Hommage an die Mutter, deren Leben vom Sohn performativ für gelungen erklärt wird
b) als stille Künstlerkarriere, die letztlich als unauffällige Liebhaberei gelingt
c) als zeitgeschichtliche Erfolgsgeschichte, worin durch kluges Beobachten des wirtschaftlichen Umfeldes so etwas wie eine kleine Vorarlberger Unternehmer-Karriere gelingt

Der Plot startet in der Zwischenkriegszeit, als Annemarie in Vorarlberg den Eintritt in ein selbständiges Leben wagt. Freilich landet sie vorerst als unbezahlte Kraft im Sägewerk des Vaters.

Der Nationalsozialismus krempelt auch die lokale Wirtschaft um, aus Unternehmern werden Funktionäre, und die Heldin landet in München bei einem Verwandten. Jetzt gilt es, die zwei großen Stürme abzuwehren, Ideologie und Sex. 

Die Männer tarnen sich einmal als spontan denkende, dann wieder als spontan getriebene Unwesen, um der Heldin habhaft zu werden.

Es gelingt Annemarie, selbständig in die Ehe zu finden, indem sie einen Architekten zur Brust nimmt, um sich ökonomisch freizuspielen für die Schauspielkarriere, die sie ein Leben lang im Hinterkopf hat.

Aber die Realität ist härter als der Traum. Seit ihrer Eheschließung mit meinem Vater kannte Mutter vor allem eins: den Verzicht.

Der erzählende Sohn weiß um die Mehrdeutigkeit der überlieferten Zitate und Geschichten. Wer weiß schon, wer seine Mutter ist, (11) relativiert er gleich zu Beginn den Stoff, der oft gut gemeint und schön geredet überliefert ist. So muss das Mädchen Annemarie ein Hitlergedicht aufsagen, und obwohl es sich als eine gute Schauspielerin empfindet, stockt es. (17)  Später wird dieses Versagen auf offener Szene als Widerstand der Mutter gegen Hitler gedeutet und erzählt.

Ähnlich verbrämt kommt die Entscheidung für den Vater rüber, dem ein früherer Verehrer geopfert werden muss mit den Worten: Du kommst zu spät! (46) Dieser bedauert prompt, seinen Hormonspiegel allzu stark gezügelt zu haben.

Mittlerweile gibt es eine ansehnliche Kinderschar, die den Vorstellungen der Vorarlberger Nachkriegsgesellschaft entspricht. Freilich steckt hinter dem schönen Schein auch Zerwürfnis mit sich selbst. Mutter spricht von ihren Schwangerschaften zu uns wie von Gott verhängten Strafen. (52) Die Ehe empfindet Mutter durchgehend als Komödie, während Vater als strenger Ungustl die Familie in Atem hält.

Als die Kinder außer Haus sind, schreibt sie Spottgedichte und tritt in kleinem Kreis damit auf. Als regionale Lyrikgröße gestattet sie sich einen Hauch jenes Gestus, den sie bei einer großen Karriere wohl gepflogen hätte.

Wolfgang Hermann lässt viele Erinnerungen offen, die entstehen, wenn man alte Fotos anschaut. Vieles kommt auf die Gemütslage an, mit der man ein abgeschlossenes Leben betrachten will. Als Schriftsteller und Sohn erweist er seiner Mutter die letzte literarische Ehre, indem er beschließt, die Erzählung für alle gut ausgehen zu lassen.

Ich war beruhigt, denn ich sah, dass meine Mutter ihren Frieden gemacht hatte mit ihrem Leben, das sie nicht so leben hatte können, wie sie es sich erträumt hatte. Aber irgendwie, auf eine seltsame Weise, war doch noch alles gut geworden. (100 )

Wolfgang Hermann: Bildnis meiner Mutter. Erzählung.
Wien: Czernin 2023. 100 Seiten. EUR 20,-. ISBN 978-3-7076-0788-8.
Wolfgang Hermann, geb.1961 in Bregenz, lebt in Wien.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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