Helmuth Schönauer bespricht:
Stephan Eibel
sternderln schaun
Gedichte

olle san in ihrn hirn alan (49) – Gedichte sind wahrscheinlich ein Überdruckventil, um den Dampf der Solitude ein wenig abzulassen.

Stephan Eibels Gedichte sind geprägt von einem Ungleichgewicht zwischen dem Betrachter und dem Betrachteten. Indem das Firmament mit seinen Gestirnen sich großmächtig zur Schau stellt, entwickelt sich eine gnadenlose Winzigkeit des lyrischen Ichs, wenn dieses zu schauen beginnt. sternderln schaun ist also ein großes Unterfangen für ein kleines Werkzeug.

Die etwa achtzig Gedichte künden von diesem Schauen, das jedem möglich ist, der einen Hauch Neugierde und Überraschungslust mitbringt. Das Eingangsgedicht berichtet programmatisch davon, wie dieses Nachschau halten ausfallen könnte: hatsch zur Tür / öffne sie // was du siehst / was du siehst / was du siehst // überraschung. (5) 

Überraschung breitet sich nicht nur an der Tür aus, wenn sie aufgerissen wird, vor der Überraschung gibt es meist ein akustisches Signal, ein Läuten oder Pochen, das Anspringen von Feuermeldern oder Kindergeschrei, die einen zur Tür hatschen lassen.

Stephan Eibel greift auf lyrische Tür-Signale zurück, wenn er seine Gedichte in den Überraschungsmodus schickt. Die markantesten Signale dieser Sammlung lassen sich in vier Clustern beschreiben:
a) mit den graphischen Signalen von Asterisken werden Firmament und Sternbilder als Screenshot ausgelegt
Als Leitmotiv ziehen diese Sternchen über die Seiten, nehmen dabei die Struktur eines Sonetts an (23), stapfen im Blocksatz aus der Symmetrie hinaus (26), oder verpressen sich zu fetten Stern-schweifen (58).
b) im inneren Monolog und oft im Dialekt werden Lebensweisheiten zu Einzeilern eingedampft und aufs Papier geblasen.
olle san in ihrn hirn alan (49); das land ist nur in der stadt schön (64) / sterben: // der letzte versuch / das leben madig zu machen (46), baum // man sieht ihn zwar kaum / aber er hat den besten ruf / im städtischen raum (63)
c) als Ausdruck visueller Poesie werden Lebensläufe als Kumulation von Rufzeichen notiert
70 jahre in rufzeichen (20-22); 33 leerzeichen / mit strichpunkt (37);  […] (farbloses gedicht unter anführungszeichen) (14)
d) einem soziologischen Experiment ähnlich werden lyrische Bilder gegenseitig in Stellung gebracht, was oft zur Folge hat, dass das Gerüst zusammenschmilzt und wie beim Bleigießen neue Runen und Rätsel schafft

In der Jugend streift der lyrische Held durch die Vororte der Stadt und möchte am liebsten alle herausläuten, bei denen er Licht sieht, und weiterfeiern. Im Alter sieht er es melancholisch: Die können alle nicht schlafen.

Ähnlich den Sternbildern, die man von einer Vorlage herunter auswendig lernen muss, damit man sie später in der echten Betrachtung am Himmelszelt ausmachen kann, müssen auch politische Konstellationen von klein auf gelernt und ein Leben lang geübt werden. Das politische Arbeitergedicht lässt sich dabei wie die Ortschaft Eisenerz von der Drohne aus vermessen, und siehe, es schrumpft und franst aus.

Dieses Eisenerz kommt fallweise zum Vorschein, wenn etwas verschwunden ist, Eisenerz ist die lyrische Kapsel für eine Welt, die mit der Kindheit des Autors verdunstet ist.

In einem depperten Altersgedicht erzählt ein Übriggebliebener aus der damaligen Eisenerz-Zeit, dass überall nur Deppen sind. Der neugierige Heimatbesucher hakt nach, wo denn genau die Deppen sind. Und der politisch aktive Fünfundvierziger zählt auf Nachfrage die Bezirke einzeln auf, in denen diese Typen sitzen, in Graz, Hartberg-Fürstenfeld, Bruck-Mürzzuschlag, Murau – alles Deppen. Selbst das Zusammenlegen alter Orte zu Großgemeinden hat den Wortschatz der Ungustln nicht vergrößert. (82)

Zwischendurch fordern die Gedichte Zähigkeit und Konsequenz beim in die Luft Schauen bis die Sterne kommen. Einmal drängt sich ein Text vor und vergleicht sich mit dem Marathonlauf, der Dichter muss sich verausgaben wie der Läufer und dementsprechend gezeichnet dreinschauen, wenn die Sache erledigt ist.

An anderer Stelle greift der Autor wieder zu seinen heißgeliebten Sonderzeichen, die er einst im Setzkasten der Grundschule eifrig genützt hat. In einem Anhang sind Hannah und Marlene in Rufzeichen gewürdigt, die eine kriegt mit ihren vierundzwanzig Jahren gerade mal 15 Lobes-Erwähnungen, die andere mit zwanzig Jahren eine ganze Seite voll. Die Rufzeichen können auch als inhaltslose Befehle gelesen werden, denen die Heldinnen ausgesetzt sind.

In den Gedichten wenigstens herrscht Gerechtigkeit, es ist egal, wie viele Sternderln oder Rufzeichen man verwendet, das Gedicht ist immer ganz groß. Hier spricht Stephan Eibel als studierter und vom Leben gebeutelter Soziologe.

Stephan Eibel: sternderln schaun. Gedichte.
Innsbruck: Limbus 2024. 96 Seiten. EUR 15,-. ISBN 978-3-99039-248-5.
Stephan Eibel, geb. 1953 in Eisenerz, lebt seit 1979 in Wien.

Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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