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Helmuth Schönauer
Überflüssig!
Wohin mit dem Lebenssinn?
Zum Jahresausklang

1.
Das neue Jahr bringt nicht nur die übliche Ungewissheit, wie es werden wird, sondern einer ganzen Generation die Gewissheit, dass sie überflüssig ist. Die letzten Baby-Boomer machen sich auf, im kommenden Jahr in Pension zu gehen.

Als Boomer bezeichnet man jene, die es vor dem Pillenknick 1964 geschafft haben, auf die Erde zu schlüpfen. Ihr Eindruck von der Welt war von Anfang an ernüchternd:
– Sie sind immer zu viele.
– Es ist alles schon da.
– Wo immer man hin will, sitzt schon jemand.
– Und immer wird man verscheucht: Gsch gsch, wir können dich hier nicht brauchen!


2.
Diese Boomer-Erfahrung müssen vor allem Künstlernde machen. Eine vor 65 Jahren Geborene findet kaum eine Fläche vor, in der sie sich entwickeln könnte. Die Musikstile sind geprägt, die Bilderkategorien entwickelt, die literarischen Leerstellen nach dem Krieg sind besetzt.

Das Künstlerboot ist für alle Geschlechter voll!

Wenn wahre Kunst dort entsteht, wo es wehtut, dann müsste sich die Boomer-Generation wohl damit auseinandersetzen, dass sie überflüssig ist. Die entscheidende Frage lautet daher: Was tun mit dem Lebenssinn?


3.
Nachdem eine öffentliche Auseinandersetzung mit diesem Thema nicht gelingt, weil – typisch Boomer – auch diese Themen schon besetzt sind, bleibt nur die individuelle Aufarbeitung der missglückten eigenen Mission.

Wahrscheinlich besteht die individuelle Altersbeschäftigung der Boomer darin, darüber zu räsonieren, wie überflüssig sie ein Leben lang gewesen sind. Eine Methode ist beispielsweise das Abarbeiten des eigenen Schicksals durch künstlerische Tätigkeit.

Im Idealfall kommt dann ein schöner Satz heraus, der alle Boomer-Ungemach wieder ins Lot des Friedhofs rückt: Ich möchte nicht der Reichste am Friedhof sein, deshalb spende ich zu Lebzeiten großzügig. (Ulli Hoeness)


4.
Von hundert Personen, die in die Kunst geflüchtet sind, kommt maximal einer auf die Bühne der allgemeinen Wahrnehmung. In einer trivialen Beschreibung wird die Kunst als jenes Nadelöhr beschrieben, durch das das Individuum in die Masse hineingezogen wird.

Wenn es plötzlich zu viele Individuen gibt, gibt es automatisch zu wenig Masse. In der Kunst merken wir das daran, dass wir lauter Autorinnen haben, aber keine Leserinnen. Lauter Schauspielende, aber kaum ein Publikum. Lauter Museen, aber keine Besucherströme.

Als überflüssiger Boomer tut man deshalb gut daran, diesem Nadelöhr aus dem Weg zu gehen und sich neu zu definieren.

So bestätigen vermehrt Leute, die mit dem Railjet nach Wien zu einer Opernaufführung gefahren sind, dass die eigentliche Oper in der Masse der Klimaticket-User stattfindet, die sogenannte Aufführung im Opernhaus ist nur die Ausrede für die künstlerische Reise.


5.
Da für die Boomer das Leben so gut wie gelaufen ist, bleibt ihnen nicht mehr viel Zeit, sich zu verwirklichen.

Vielleicht sollte man angesichts der Überbevölkerung die Lebensziele anders formulieren: 

Es geht beim Leben um nichts. Niemand hat dich gefragt, ob du es haben willst, also bist du auch niemandem Rechenschaft schuldig.

Du bist als Boomer ein Opfer der verspäteten Forschung. Hätte man die Pille früher erfunden, wäre dir alles erspart geblieben.

Da du ungewollt auf dieser Erde lebst, sollte deine Überlebensstrategie sein, unentdeckt zu bleiben. Niemand soll dich im Netz haten, niemand wegen deiner Gesinnung anpöbeln, wenn du krank bist, sollst du als Sozialversicherungsnummer wohlgelitten sein.

Alle anderen Lebensmodelle von der Herrlichkeit des Individuums und dem Rechtsinhaber der Menschenrechte stammen aus einer Zeit, als die Menschheit noch überschaubarer war, die einzelnen Gedanken einem einzelnen Gehirn zugeordnet werden konnten und der Lebenssinn im Überbrücken des einzelnen Tages bestand.


6.
Was die Boomer im Alter so nachdenklich stimmt, nämlich dass sie ein Leben lang überflüssig waren, wird früher oder später die gesamte Menschheit betreffen. Sie wird sich als ganzes überflüssig fühlen und beten, dass das Meer schnell steigt und die Dürren schnell alles versengen. Beides bleibt den Boomern erspart.

Die Milde des Alters sagt, dass es egal ist, welchen Job man gehabt hat und welcher Kunst man nachgehangen ist. Man schmunzelt über die Rituale, die beim Ausfechten guter Jobs im Kultursegment Tirols angewandt werden. 

Quotenregelung, Zweisprachigkeitsprüfung, Osttirol-Bonus, Präferenz durch Partei-Headhunter dienen seit Jahrzehnten nur dazu, die Leute bei Laune zu halten und ihnen Gesprächsstoff zu liefern.

Die guten Jobs sind immer besetzt, egal welches System regiert. Zyniker zitieren gerne die Geschichte: So soll es in unseren Landen immer ein Leichtes gewesen sein, einen guten Henker zu finden, wenn jemand nach ihm rief.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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