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Helmuth Schönauer bespricht:
Peter Giacomuzzi
weitermitohnerichtung
Gedichte
Stadtbücherei. 2023. Release 10.11.2023

Peter Giacomuzzi nistet sich mit seinen Gedichten an diesem feinen Haarriss ein, der zwischen ungeschützter Realität und in Vitrinen behauster Illusion besteht. Seine Texte laufen wie die Lichtspur zu einem politischen Film der Gegenwart ab, andererseits sind die installierten Bilder luzide und glasig wie Einlegearbeiten in Rex-Gläsern.

Der Vorgang des Recherchierens, Verarbeitens und Deponierens ist dabei einzigartig. Der Autor lässt das Jahr ablaufen wie bei einem Abreißkalender, indem er die einzelnen Tagesgedichte zuerst auf Facebook als Diskussions- und Besinnungsmaterial installiert. 

Wenn der Tagesrausch auf Sozial Media vorbei ist, kommen die Texte in einer unendlichen Scroll-Schleife auf die Homepage und benehmen sich dabei wie digitalisierte Texte aus dem Sektor e-book.

Von Jahr zu Jahr schließlich wird Material aus dem digitalen Archiv abgerufen und bei besonderen Anlässen zu einem Release verdichtet. Zu diesem Zweck gestattet sich der Autor einen einmaligen Ausdruck der Texte, damit er sich haptisch zurechtfindet im eigenen Text, und gleichzeitig dem Publikum den Glanz einer kostbaren Reliquie vor Augen halten kann: Seht her, so hat Lyrik zu einer Zeit ausgesehen, als sie noch in Büchern gedruckt und gelesen worden ist!

Der aktuelle Release nennt sich nach dem Ordner, unter dem die Texte auf der Homepage des Autors abgelegt sind: weitermitohnerichtung. Unter diesem Titel ist auch die sogenannte literarische Intervention angekündigt, die anlässlich des Fünfjahresjubiläums der aktuellen Stadtbücherei Innsbruck After-Work stattfindet.

Während einer halben Stunde werden die Gedichte unter folgenden Komponenten zusammengebrowst:
– in der Bibliothek herrscht Normalbetrieb bei gedämpfter Lautstärke
– in einer Raumausbuchtung mit Ausblick auf die Straßenbahnhaltestelle sitzt ein Sub-Publikum und unterhält sich über das Sub-Thema Lyrik
– auf einem Bildschirm werden die Gedichte vom Autor ausgescrollt und mit Arbeitsgeräuschen des Suchens und Findens unterlegt
– mit nach innen gesenkter Stimme, wie sie üblicherweise für den inneren Monolog reserviert ist, erklärt der Autor, was zwischen den einzelnen Texten im sogenannten Leben geschehen ist
– nach dem Durchlauf der geplanten Textportion auf dem Bildschirm kehrt alles sofort wieder in jenen Standby-Modus zurück, in welchem Lyrik üblicherweise verharrt, bis sie über die Homepage von einzelnen Usern abgefragt wird.

Die Performance ist unterhaltsam, zumal der Autor die lyrischen Protagonisten wie Comic-Figuren vorstellt. Der Bundeskanzler beispielsweise wird als Karate-Charly präsentiert, weil er seine Ansprachen üblicherweise mit imaginären Schlägen seiner Handkanten unterlegt. 

Ein zweisprachiges Gedicht korrigiert sich selbst, indem es den nicht gebrauchten Textanteil über den Bildschirm hinausschiebt. Während ein Gedicht über den Hotspot Lampedusa angesteuert wird, erklärt der Autor, was es sonst noch für Hotspots gibt, die sich ein solches Gedicht verdient hätten.

Die einzelnen Vortragselemente können vom Publikum individuell gefiltert werden. Wenn jemand den puren Text sehen will, braucht er bloß auf den Bildschirm zu starren und sieht die Texte des letzten Halbjahres vorüberziehen, luftig gesetzt wie ein langer Textstrahl, der von oben nach unten rinnt.

„# klein blatt papier / kein blatt kein blatt // dem kanzler und / dem ex / passt nix dazwischen // so eng so eng / kanns werden // wenn männer sich wie männer / gebärden in den bergen // mein winnetou / du mein old shatterhand // dies ist wohl erst / der anfang nicht das end // 200923

# post faschismus / post nazismus // post it / pro sit // 250823

# urlauber fliehen / aus dem land / an den mittelmeerküsten / riecht es nach brand // andere fliehen / in das land / sind in das land geflohen // und bleiben / müssen / nach all der flüchterei / bleiben // am strand riecht es / nach brand / urlauber fliehen fliegend / die anderen flüchten bleibend / ein heil unseren herren // öffnet die münder und / schließet das tor / auch damen / und* / die denken // besser dahinter als davor // 240723“


Wie bei jeder Performance geht, während sie geschieht, das Leben weiter, als wäre nichts geschehen. Das Publikum jedoch gibt später bei Befragung an, es sei durch diesen künstlerischen Akt für kurze Zeit in einen anderen Zustand versetzt worden.

Peter Giacomuzzi vermag mit seinen Texten, das Publikum in eine andere Zeitwahrnehmung zu versetzen. Er bedient sich dabei der Hilfsmittel von Lyrik, Archiv und Bibliothek. In all diesen Medien verliert die Zeit leicht den Überblick und stolpert über sich selbst, wodurch Kunst aus ihr austritt.

Peter Giacomuzzi: weitermitohnerichtung. Gedichte.
Innsbruck: Stadtbücherei 2023. Release 10.11.2023.
https://www.petergiacomuzzi.com/
Peter Giacomuzzi, geb. 1955 in Bozen, lebt nach Jahren in Japan in Innsbruck.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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