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Helmuth Schönauer bespricht:
Lukas Meschik
Die Würde der Empörten
Roman

Historische Zeitepochen werden oft nach psychischen Befindlichkeiten benannt, ehe sich dann ein großer Begriff durchsetzt wie beim Barock oder der Romantik. Um 1900 wurde etwa vom nervösen Zeitalter gesprochen, weil der Erste Weltkrieg ja noch auf sich warten ließ. 

Die Gegenwart hat ebenfalls viele Probe-Begriffe im Umlauf. Unter anderem verwendet sie den Ausdruck Wutbürger, um den Auflauf irritierter Menschen zu beschreiben.

Lukas Meschik versucht, die Gegenwart mit einem essayistischen Roman in eine Erzählung zu verwickeln. Der Vorteil des Erzählens besteht darin, nicht auf Prognosen angewiesen zu sein. (24) Und im Vorsatz ist als Motto eingeprägt: Die Gegenwart lässt sich am besten als Dystopie erzählen. (5)

Der Roman schreit geradezu danach, auf drei Ebenen gelesen zu werden. Einmal ist es das Schicksal eines Erzählers, der sich mit einem Fotografen zusammentut und monatelang diverse Aufmärsche besucht. Er verliebt sich dabei in eine Polizistin, die wöchentlich die Demos begleiten muss. Am Schluss kommt es zu einer Explosion, in der Erzähler und Fotograf vernichtet werden.

Auf dem zweiten Lesestrang sind etwas über sechzig Kleinessays angesiedelt, die das üblicherweise in der Tagespresse dokumentierte Geschehen mit Überlegungen, Thesen und Gedankenentwürfen ausstatten. Den einzelnen Kapiteln wird dabei eine Nummer zugeteilt, damit man sie wie in einem Paragraphen-Buch leicht findet und zitieren kann.

 Außerdem gibt es eine kapitale Überschrift, die im klassischen Sinn ankündigt, was nun behandelt werden wird. Zwei. Nur Menschen / Zwölf. Heldenzeit / Fünfzehn. Nur für Verrückte / Siebenundzwanzig. Troll / Siebenunddreißig. Masse als Macht / Fünfundfünfzig. Run aufs Tribunal – Diese Überschriften steuern die Essays sowohl durch die Handlung des Romans, als auch durch die diversen Geistesbewegungen der Gegenwart.

Im dritten Lesestrang kommt die Verknüpfung von These und Erzähl-Handwerk zum Tragen. Wenn man eine brauchbare Methode findet, um die Literatur zu erkunden, könnte diese Methode vielleicht auch zur Erklärung der politischen Gegenwart dienen. In diesem Sinne heißt erzählen, ein politisch tragbares Narrativ zu finden. 

Das Erzählen selbst wird permanent in Frage gestellt und gerät sogar in eine formidable Krise, als der Erzähler in die Luft fliegt. Die Leiche bin ich. (239) Das Ende des Romans geschieht als Vermutung, indem jemand das Material im Laptop zu Ende liest. Und schon beginnt die Literatur mit der eigenen Verwesung, indem sie von den Nachfahren final verwertet und ausgelesen wird.

In dieser Konstellation sind massig Gefühlslagen, Emotionen und Reflexe eingebaut. Den Großteil dieser Beschreibungen absolviert der subjektive Erzähler, in lesefreundlicher Weise: Er moralisiert nicht, sondern solidarisiert sich mit dem Wunsch der Empörten, eine Art Würde zu erlangen.

Die Würde der Empörten zeigt die Menschen auf der Suche nach etwas, wobei sie für Augenblicke einen Sinn erfahren, ehe sie wieder in der Masse untertauchen und in sich selbst ausschreiten.

Dieses wabernde Dahinfließen entgleister Massen kulminiert in einem Erlösungstraum: Die Menschen drängen den Hügel hinauf und erstürmen ein Gebäude, das für eine Entscheidungsgewalt steht, der sie sich unterworfen fühlen, als deren Opfer sie sich verstehen. Sie hätten schön sterben wollen – in Würde untergehen. Jetzt stehen sie blöd in der Gegend herum. (147)

In unzähligen Anläufen versuchen Fotograf Lester und der wie zufällig hinzugekommene Ich-Erzähler, den beobachteten und künstlerisch behandelten Menschen gerecht zu werden. In der Schlusssequenz gerät der Erzähler in die Werkstatt Lesters und kapiert, dass alle diese Demonstranten, Empörten und Erregten eine Würde haben, wenn man sie näher ins Visier nimmt.

Die Welt ist radikal interessant, heißt es mehrmals als Verheißung. Die Ziele des Lebens lassen sich kaum darstellen, wenn man schnell danach gefragt wird. So wissen auch die Empörten nur vage, was sie wollen. Ein gutes Leben führen (31) erweist sich als die finale Fügung, mit der man den gesellschaftlichen Aufruhr beschreiben kann. Dabei ändert sich vielleicht das ausgerufene Thema von Woche zu Woche.

Ab der Hälfte des Romans beschäftigt sich der Erzähler hauptsächlich mit der Polizistin Lexi, die er als menschlichen Haufen unter einem Berg von Uniformen und Protektoren entdeckt hat. Die beiden entwickeln eine raffinierte Sexwelt, in der sie jene Erregung stillen, welche die Empörten durch Demonstrieren zu zähmen versuchen. Auch diese vom Sex gesteuerte Lebensabsicht unterliegt dem großen Ziel, ein gutes Leben zu führen.

Nach dem Tod des Erzählers verabschiedet sich Lexi aus dem Text. Der Erzähler, der stumm dem Aufräumen zusieht, vergleicht sich mit einem dieser bei der Explosion vernichteten Porträts, die im Augenblick des Verbrennens den Höhepunkt an Würde erreicht haben.

Lukas Meschik lässt die diversen Stimmen und Stimmungen gleichwertig zu Wort kommen, er bleibt selbst neugierig bis zum bitteren Ende, ob man den Sinn der Empörten überhaupt erkunden könnte. 

Wer diese marodierenden Massen begreift, hat wahrscheinlich die Gesellschaft begriffen. In einer großen Verkürzung lässt sich der Roman nämlich auch als Gewusel im Netz lesen, worin für kurze Augenblicke die Personen analog herumrennen, planlos hier wie dort.

Lukas Meschik: Die Würde der Empörten. Roman.
Innsbruck: Limbus 2023. 251 Seiten. EUR 22,-. ISBN 978-3-99039-231-7.
Lukas Meschik, geb. 1988 in Wien, lebt in Wien. Stadtschreiber in Kitzbühel 2013.


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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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