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Helmuth Schönauer bespricht:
Juri Andruchowytsch
Radio Nacht
Roman
A. d. Ukrain. von Sabine Stöhr
[Orig.: Radio Nic; Chernowitz 2021]

Durch den Krieg werden Vorkriegsromane zu Kriegsromanen. Autor und Publikum können das Rad der Literatur nicht zurückdrehen, beiden sind die Augen inzwischen anders aufgegangen als geplant. Und auch der Roman ist ein anderer geworden.

Juri Andruchowytsch hat seinen Roman Radio Nacht 2021 geschrieben mitten in unserer Vorkriegszeit, die in der Ukraine schon als Vollkrieg empfunden worden ist.

Sein Thema ist folglich: Wie kann für unterschiedliche Gesellschaften etwas erzählt werden, was alle zumindest für eine Romanlänge zusammenführt?

Als Erzählsituation ist ein seltsames Radio-Feature gewählt, das als über-zeitliche Sendung für ein zeitloses Publikum abgestrahlt wird. Der Moderator erzählt sich dabei in Kursivschrift durch die Nacht, fragt immer wieder beim imaginären Publikum nach, ob es wohl noch da ist, und spielt nach jeder Sequenz Musik, die schon längst als Pop-Klassik zu einer Art permanentem Weltkulturerbe geworden ist. Über einen QR-Code oberhalb vom Impressum lässt sich diese Musik bei Leselicht ansteuern und abhören.

Held dieser Nachtsendung ist der Moderator selbst, der auf den wundersamen Namen Josip Rotsky hört, was gerne als Namensverschweißung von Joseph Roth, dem Melancholiker Galiziens, und dem nach USA ausgewanderten russischen Nobelpreisträger Joseph Brodsky gelesen wird. Brodskys Texte werden inzwischen von Russland als Nationalerbe genutzt.

Die Sendung Radio Nacht wird von einer Insel am Nullmeridian aus gesendet, das Eiland liegt außerhalb der Geographie und ist Teil der Magie, die abgestrahlt wird.

In persönlichen Einschüben erzählt Rotsky von der Kraft der Musik, sowie vom Untergang der Welt durch Hitze und durch ausgelöste weltumspannende Fluchtbewegungen. Nicht jedem wird es gegeben sein, eine Sendung zu machen, die meisten werden nicht einmal einen Ort haben, diese zu hören.

Das Konzept von Radio Nacht erinnert an das legendäre Erzählunterfangen Good Morning Vietnam (1987), worin ein irre gewordener Moderator täglich versucht, die US-Marines beim sinnlosen Sterben im Dschungel Vietnams zu unterstützen. Die sogenannten Vietnam-Songs haben die Veteranen ein Leben lang begleitet, manche sagen sogar: sie verfolgt und in den Wahnsinn getrieben.

Während dieser Film die Kriegs-Community hinterher zusammenfasst, als alle schon wieder zu Hause vor dem Kino sitzen, fasst Juri Andruchowytsch die Community vor ihrem Einsatz zusammen. Und jetzt, mitten im Krieg lassen sich absurde Parallelitäten des Nacht-Moderators mit dem aktuellen ukrainischen Präsidenten herstellen, der Nacht für Nacht über Video-Botschaften das Land zusammenhält und die Welt um Waffen bittet.

Im Roman wird der grotesk wirkende Rotsky zu einem mannigfaltigen Helden ausgebaut, indem sich so gut wie alle katastrophalen Ereignisse zu einer Katastrophenbiographie zusammenführen lassen.

Ein zurückgenommener Erzähler soll nämlich eine Biographie über Rotsky verfassen und kann sich bis zum Schluss nicht auf eine klare Linie der Darstellung festlegen. So ergeben die diversen Stationen einen Liebes-, Agenten-, Künstler-, Spionage- und Endzeitroman, wobei die Themen am Ende sind, aber nicht die Genres. (Das ist ja das Kennzeichen eines guten Endzeitromans, dass die Dinge schon kaputt sind, die Erzählung aber noch weiterläuft.)

Rotsky tritt als berühmter Musiker auf, unterstützt die Revolution, bis man ihm die Finger bricht, wird Emigrant ohne Aufenthaltsrecht in der Schweiz, tötet während eines Konzertes einen Wohlstands-Diktator, indem er ein Ei auf ihn wirft, sodass dieser an Schock stirbt.

Außerdem kämpft er ständig mit einer Liebschaft, die aber durchaus eine gefährliche Agenten-Chose sein kann, wenn er den Gefühlen anheimfällt und sein Innerstes auspackt. Im Abschiebegefängnis ergibt sich ein großer Deal, bei dem genug Geld für ein neues Leben übrigbleibt. Aber dieses Leben lässt sich nirgendwo ausüben, weil der gesamte Kontinent von Hitze versengt ist. Die Flucht endet auf einer Insel, wo vorläufig noch Radio gemacht werden kann, denn die Erde ist noch nicht ganz tot.

Was laut wie eine Groteske voller Gleichzeitigkeit auf die Leserschaft einschlägt, ist eine musikalische Symphonie voller Motivketten und Denkschritte. Die zitierten Musikstücke gehorchen einer inneren Ordnung und sind sanft aneinander angedockt, sodass große, epische Musikbotschaften daraus hervorspringen.

Die Hierarchie der Lebensfelder ist ähnlich klug angelegt wie in der bewährten Besiedelungspolitik üblich: Im Parterre wohnt der Held als Künstler. Das Parterre-Motiv ist in der postsowjetischen Literatur besonders häufig, indem die Höhe des Stockwerks meist eine soziale Stellung bezeichnet.

Unterhalb des Dichters ist im Keller ein Club untergebracht, der die Gesellschaft von unten her annagt. Über dem Dichter zieht ein Psychiater ein und beginnt sofort mit Behandlungen aller Art.

Die wichtigsten Verhaltensweisen in einer amorphen Gesellschaft sind durch diesen Dreischritt bestens beschrieben. Ebenerdig wohnt die Kunst, unterirdisch wühlt die rebellische Politik, im ersten Stock residiert die Psychiatrie, die alles sediert und zur Ruhe bringt.

Gespräche und Überlegungen des Künstlers laufen ähnlich strukturiert ab. Eine Geliebte entpuppt sich als Agentin, ein Agenturchef wird zum Mephisto, indem er den Künstler per Blutsvertrag an sich bindet, und der Rabe, der auf der Schulter des Helden sitzt, wird flugunfähig, als es zu fliehen gilt.

Ähnlich symbolträchtig sind auch die kontinentalen Locations ausgebreitet. In der Schweiz laufen die Migrantenströme des Geldes zusammen, während die physischen Migranten ruhiggestellt oder ausgewiesen werden. Im Karpatenbogen entsteht wie in einem zerbrochenen Vulkankegel ständig Lava, die erkaltet als Menschenmassen in die Welt hinausgespült wird. Und am Ende der Welt schließlich im Niemandsland liegt die Nullinsel, die man als Gefängnis, Abschussrampe für Waffen oder als Informationssender vom Ende der Zeit nutzen kann.

Die deutsche Übersetzung der Radio Nacht ist dieser Tage mitten im Krieg erschienen, sodass die Rezeption vor allem darauf achtet, wie man in einem überfallenen Land bei abnehmender Infrastruktur lebt.

Die Antwort des Juri Andruchowytsch ist beachtlich: Er beschreibt das Desaster, indem er auf die Nachtseite des Gehörs ausweicht, kein einziges Mal kommt der Name Ukraine vor, der Karpatenbogen ist das einzige Zugeständnis an eine Welt, die vor allem aus Überlebenssound und Untergrundmusik besteht.

Das Ende der Sendung bei Tageslicht ist ernüchternd. Es hat kein Ende und wird nie enden: ich, wir, unser Winter, der Schnee. / Jetzt nur noch MeryVo und Des’Tam, irgendwo dort. / Das war Josip Rotsky.

Juri Andruchowytsch: Radio Nacht. Roman. A. d. Ukrain. von Sabine Stöhr. [Orig.: Radio Nic; Chernowitz 2021].
Berlin: Suhrkamp 2022. 468 Seiten. EUR 26,80. ISBN 978-3-518-43072-9.
Juri Andruchowytsch, geb. 1960 in Iwano-Frankiwsk/Westukraine, dem früheren galizischen Stanislau, lebt in Iwano-Frankiwsk.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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