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Helmuth Schönauer bespricht:
Elyas Jamalzadeh / Andreas Hepp
Freitag ist ein guter Tag zum Flüchten.
10.000mal verschenkt durch Innsbruck liest 2023

Lesen ist für die meisten so selbstverständlich wie Nicht-lesen. Es ist in der Öffentlichkeit vorhanden wie das Radfahren oder Fußgehen. Und nur wenn man es gezielt thematisiert, überlegen die Angesprochenen, ob sie vielleicht wieder einmal ein Buch durchblättern könnten.

Die Stadt Innsbruck spricht unverdrossen seit Jahren ihre Insassen auf das Lesen an, verweist dabei auf eine gut funktionierende Stadtbibliothek und verschenkt 10.000 Bücher, die für Aufmerksamkeit, aber nicht für Aufruhr sorgen.

Für diese ausgewogene Lesekost sorgt jeweils eine andere Jury, und die Kunst der Politik besteht darin, diese Jury klug auszuwählen. Heuer bestand sie aus Doris Eibl (Juryvorsitzende, Institut für Romanistik, Universität Innsbruck), Alexander Kluy (Literaturjournalist und Autor, München), Alexandra Plank (Kulturjournalistin, Innsbruck) und Andreas Unterweger (Schriftsteller, Graz).

Das Team hat wie ein erfahrenes Schiedsrichterquartett gearbeitet und als Innsbruck-liest-Buch einen Erlebnisbericht aus der Migrationsszene ausgesucht.

Freitag ist ein guter Tag zum Flüchten ist ein Narrativ, das sich Elyas Jamalzadeh als seine eigene Fluchtgeschichte zurechtgelegt hat, unterstützt wird er dabei vom Germanisten Andreas Hepp, der verschiedene Elemente der Literaturkunst in den Erfahrungsbericht hineingeflochten hat.

Geradezu sensationell wird dabei das Kernkapitel der Flucht über das Mittelmeer nach Griechenland überhöht, indem es mit Paul Celans Todesfuge unterlegt ist.

Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends / wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts / wir trinken und trinken / wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng.

Diesen Text von der schwarzen Milch durften bislang nur Überlebende und Nachfahren des Holocaust zitieren, für alle anderen war er tabu. Mit diesem Tabubruch freilich kommt es zu einer Engführung zwischen Mittelmeer-Migranten und Holocaust-Überlebenden. Ob das die Letzte Generation schon sagen darf, ist noch nicht geklärt.

Bei Elyas Jamalzadeh handelt es sich freilich um einen Künstler-Füchtling, der sich, wie er mehrfach erwähnt, letztlich in allen Kulturkreisen zurechtfindet. Während der Schilderung bedankt er sich auch mehrfach bei Österreich, dass ihn dieses Land letztlich unkompliziert aufgenommen hat, weil man ihn vermutlich als Künstler, weniger als Migranten wahrgenommen hat.

Obwohl es sich um ein gelungenes Schicksal handelt und der Erzähler ein Braver ist, der sich bestens in Österreich integriert hat, in Oberösterreich als Friseur arbeitet, die Religion gewechselt hat und mit einer Deutschprofessorin verheiratet ist, sind Flucht und Heimatlosigkeit dennoch ein schweres Trauma, das auf ihm lastet.

Sein Bericht ist von der Dramaturgie her wie ein Spielfilm angelegt, und tatsächlich ist der Autor bereits im Iran als Jungschauspieler und Filmemacher aufgetreten.

Kernpunkt ist das Untergrundleben, das Millionen afghanischer Flüchtlinge im Iran zu bestehen haben, ohne Aussicht auf Verbesserung, Integration oder gar Rückkehr nach Afghanistan.

Die Schlüsselszene dürfte in der Fragestellung liegen, warum es keinen Sinn macht, nach Afghanistan zurückzukehren, wenn man im Iran gestrandet ist.

Freunde sagen den Migrations-Willigen über Europa:
a) Niemand entführt deine Schwester.
b) Niemand verbietet dir, in die Schule zu gehen.
c) Niemand verlangt um ein Vielfaches zu hohe Mieten.
(67)

Solange solche Gerüchte im Umlauf sind , darf sich niemand wundern, dass alle nach Europa wollen.
Denn ein Gerüchte-Skeptiker müsste antworten:
– Deine Schwester wird von TikTok entführt, wenn sie in Europa ununterbrochen ins Display gafft.
– Du kannst zwar in die Schule gehen, aber diese ist voll und niemand hat Zeit, dich in deiner Muttersprache zu betreuen.
– Die Mieten sind mittlerweile so hoch, dass nicht einmal Einheimische sie bezahlen können. Was willst du als Frisch-Zugezogener am Wohnungsmarkt finden?

Die Qualität des Buches entsteht erst in der Diskussion mit den Einheimischen.
So gesehen ist die Entscheidung für Elyas Jamalzadeh als Innsbruck-liest-Buch richtig und wichtig. Darin kann nämlich die Literatur zeigen, wofür sie da ist: Die Kluft zwischen der politischen Öffentlichkeit und dem abgegrenzten Individuum durch Dialog aufzubrechen.

Als Methode eignet sich dafür das Genre Roman oder, wie in diesem Fall, das Erlebnis-Narrativ.

Die Geschichte hat nämlich den Autor so überzeugt, dass er sie für sich selbst glaubhaft darstellen kann. Jetzt müssen nur noch die Einheimischen ihre Geschichte glaubhaft darstellen, um in den Dialog eintreten zu können.

Denn, wie sagt der Autor recht witzig: Jeder ist auf der Flucht.
Das Neugeborene flüchtet aus der Mutter. Der Schüler flüchtet vor der Prüfung. Der Österreicher flüchtet vor der Rundfunkgebühr. Der Sterbende flüchtet aus dem Leben. (7)

Elyas Jamalzadeh / Andreas Hepp: Freitag ist ein guter Tag zum Flüchten. (Innsbruck liest 2023).
Wien: Zsolnay 2022. 254 Seiten. EUR 22,70. ISBN 978-3-552-07289-3.
Elyas Jamalzadeh, geb.(Geburtsdatum unbekannt) in Teheran als Kind afghanischer Kriegsflüchtlinge, flieht 2014/15 nach Österreich und beginnt eine Lehre als Friseur.
Andreas Hepp, geb. 1996 in Wels, lebt als Deutschlehrer in Linz.


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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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