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Helmuth Schönauer
Stammhirn-Blues
Stichpunkt

Große Entwicklungen scheinen sich an die biblische Schöpfungswoche zu halten: sie setzen im Tagesrhythmus Maßnahmen zur Konstruktion oder Dekonstruktion, um sich zuletzt im universellen Sonntag der Entropie zu entspannen.

Die Geschichte mit dem Klimawandel wird mittlerweile schon im Kindergarten der Letzten Generation heruntergebetet, die Kids singen statt wie früher vom Bi-Ba-Butzemann vom Kli-Ma-Kohlemann, der in die Erde zurückgeschickt und dort verpresst werden soll.

Der Klimawandel ist in Wort und Erscheinung ein allgemeingültiges Phänomen. Je nach Lesart ist er menschengemacht oder einfach ein Stück Evolution. Ja, man wird ein bissl was tun müssen, sagen vor allem jene, die erwarten dürfen, rechtzeitig das Zeitliche zu segnen.

Nachdem Religionen meist die Entstehung der Welt und ihr Aufblühen aus menschlicher Sicht beschreiben, haben sie bei der Dekonstruktion der Lebensentwürfe immer weniger zu sagen. So treten denn auch die modernen Götter als Wissenschaftler auf, die im Idealfall untereinander streiten wie dereinst die griechischen Voll- und Halbgötter. (Griechische Götter sind in der Hauptsache Diskutiervorlagen, und man muss nicht an sie glauben, das macht sie so sympathisch.)

Jahrelang war der Klimawandel ein wunderbares Diskutier- und Forschungsfeld für die Wissenschaft. Aber jetzt ist der Punkt gekommen, wo dieses Paradies für die Wissenschaft bedroht wird – schlicht und einfach durch die Evolution. Plötzlich nämlich rücken die Termine für Maßnahmen zur Trendumkehr immer näher. 2030 als magische Zahl für Zukunft erweist sich als dystopisch.

Was ist, wenn es ab 2030 keine Zukunft mehr gibt, wohin schieben wir dann die Jahreszahlen zwecks Verdrängung?

Jetzt, wo die Maßnahmen an die eigene Haut heranrücken, poppt gewaltiger Widerstand auf. Der sogenannte Energiepumpen-Hammer und die täglich vor der Haustür angeklebten Aktivisten bringen flächendeckend die Bevölkerung auf die Palme. Die Wissenschaftler sind baff, warum ihr logisch so klug austariertes Weltuntergangsmodell plötzlich auf Ablehnung stößt.

Der Grund könnte sein, dass die Klimakrise ihren Sitz ins Stammhirn der Menschen verlagert hat. Ohne dass ich mich als Gehirnforscher aufspielen möchte: Könnte man nicht die These aufstellen, wonach der Klimawandel vom Frontlappen (Intelligenz) in jenen Teil unseres Kopfes gewandert ist, der vor allem für den Schlaf-Wach-Zyklus, die Atmung und  für die Herz-Kreislauf-Kontrolle zuständig ist, im Volksmund Auto genannt?

Seit angeklebt verlangt wird, wie schnell du fahren, und mit wie viel Umdrehungen du den Ventilator der Wärmepumpe anwerfen darfst, ist Feuer am Dach und in der gesellschaftlichen Atmosphäre. Und auch wenn der Vergleich mit der Hirn-Übersiedlung gewagt ist, so weist er doch auf einen evolutionären Zusammenhang hin. Evolution ist, karg gesprochen, alles, was eine Entwicklung durchmacht.

Wie nun, wenn sich der Mensch, nachdem er an Land gestiegen, sich aufgerichtet und sich auf das Auto umgestellt hat, neuerlich weiterentwickelt und das CO2 in der Atmosphäre einfach wegatmet wie die Pflanzen? Wahrscheinlich wird sich das bis 2030 nicht ausgehen, aber bei der Technologiefreizügigkeit, die jetzt überall herrscht, könnte es eine denkbare Lösung sein.

Unabhängig von diesen evolutionären Überlegungen müsste die Wissenschaft freilich lernen, dass Evolution mehr ist als Wissenschaft. Zur Evolution gehört nämlich auch die Entwicklung von politischem Verhalten, Gewaltsteuerung und Lustbefriedigung. Bei der Umsetzung ihrer Vorschläge geht die Wissenschaft meist zu kurze Wege, weil sie zu sehr in Instituten und Semestern denkt.

Ein Heranreifen der Menschheit für den geglückten Klimawandel ist zu knapp gedacht, wenn man sich auf Erfindungen beschränkt, wonach es was Besseres gibt als das Auto, vegane Happen das Tier ersetzen, der Geldkreislauf so angelegt ist, dass man sich jenseits der Grundbedürfnisse nichts mehr leisten kann und der Tourismus als Homeoffice absolviert wird.

Der evolutionär denkende Wissenschaftler stellt sich der Parole: Ich muss ins Stammhirn hinein, wenn ich etwas bewirken will!

Währenddessen kleben kurzsichtige Menschen mit Kunststoff am Asphalt. Ihre Forderung ist wie ein Opferritual an unsichtbare alte Götter.

Weil in der Nacht so viel gerast worden ist, muss jeden Morgen an der nächstbesten Kreuzung in einem Stau jene Zeit zurück-geopfert werden, die in der Nacht durch Rasen angespart worden ist.

Einen anderen Sinn kann es ja nicht haben, wenn sich jemand anklebt und wünscht, dass unter der Flagge Hunderter-Fetischismus irgendein Heini an irgendeinem Ort eine gewisse Geschwindigkeit nicht überschreitet.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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