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Helmuth Schönauer
Illusionshäuschen für den Lese-Sommer
Stichpunkt

Haus am See

Wenn du jemanden fragst, wie er gerne wohnen würde, wenn Geld keine Rolle spielte, würde bei den meisten etwas wie ein Häuschen herauskommen, oder wie Peter Fox singt:

Und am Ende der Straße steht ein Haus am See.
Orangenbaumblätter liegen auf dem Weg.
Ich hab 20 Kinder, meine Frau ist schön.
Alle komm’n vorbei, ich brauch nie rauszugehen.

Wenn du fragst, was jemand gerne lesen würde, käme bei den meisten etwas heraus, was einem Illusionshäuschen der Literatur entspricht. Also neu, spannend, tiefgehend, berührend, logisch, optimistisch, zeitgemäß und individuell sollte es sein, freilich aber so einzigartig, als ob es nur für den einzigen Leser geschrieben ist, der man selber ist.

Während man sich das Haus am See nur selten leisten kann, wäre es in der Literatur kein Problem, sich Idyllen bis zur Vergreisung zu kaufen.

Aber da kommt das Problem der Bewirtschaftung von Idylle hinzu. Während ich beim Häuschen einfach einziehen muss, und schon funktionieren die Vorstellungen, muss ich bei der Literatur etwas Schreckliches tun: Lesen! – Lesen aber ist Arbeit!


Aufsichtsräte der Literatur

Der Literaturbetrieb hat dies längst erkannt und reagiert mit einer strengen Dichotomisierung der Lesegesellschaft. Auf der einen Seite brüten die Literatur-Aufsichtsräte, Lektüre-Analysten, Buchmacher, Veranstalter Rezensenten und Jurymitglieder durch den Sommer, und auf der anderen Seite die Konsumenten.

Diese Konsumenten sind mittlerweile geschrumpft und zu raren Individuen geworden. Selbst im originellsten Freundeskreis unauffälliger Zeitgenossen finden sich immer weniger, die man als Leser ansprechen könnte.

Zyniker stellen bereits Parallelen zur Arbeitswelt her: Auf einen Arbeitenden mit Handgriff (entspricht dem Leser) kommen mittlerweile zehn Bachelors mit KI-Anwendung (entspricht den Literaturmachern).

Im Literaturbetrieb kommen auf jedes verkaufte Buch etwa zehn Literaturfunktionäre, die, vom Autor angefangen bis hinunter zur Buchhändlerin, ständig tagen und und online konferieren, bis dann endlich ein einziger Leser das Buch kauft und in der Anonymität verschwindet.

Dabei hat es noch nie soviel Tamtam in Kultursendungen gegeben, jeder Kanal leistet sich einen Bücher-Talk, auf TikTok überbieten sich die Kids mit Cover-Empfehlungen, die Kulturseiten der Zeitungen sind voll von Preisübergaben und Messeberichten, aber hinter allem Tun steckt die substitutive Handbewegung mit der Erkenntnis:

Der gebildete Leser tut alles, um nicht lesen zu müssen!

In der Wirtschaft würde man diesen ungesunden Zustand mit einer Firma vergleichen, die nur aus Aufsichtsräten besteht, welche beobachten, wie aus Folien ewig gleiche Module herausstanzt werden, die niemand braucht.


Segmentierung

Zu dieser Ausdünnung des Pfades vom Buch zum Leser kommt noch die Segmentierung des Literaturfeldes. Mittlerweile gibt es eigene Literaturen für die Literaturhäuser, die Bibliotheken, die Buchmessen, die Bestenlisten und die Preisträger-Galerien.

Während früher jemand einen witzigen Roman geschrieben, diesen in einer Stadtbücherei vorgetragen und später in einer Buchhandlung signiert hat, ist dieser jemand jetzt in mehrere Personen aufgespalten.

Im Literaturhaus kommen nur die Literaturhausdichter zusammen, die extra für einen Abend einen Text für Literaturhaus-Mitarbeitende schreiben (meist fünf Frauen) und als Honorar eine Gegeneinladung bekommen, – wiederum für ein Literaturhaus in einem anderen Bundesland, wo wieder fünf Frauen sitzen und abermals mit einer Einladung winken, doch das neue Subventionsjahr mit einer Insiderlesung zu beginnen.


Bestenlisten

Ähnliches gilt für die Bestenlisten-Literatur. Jeder Verlag bestellt für das kommende Halbjahr seine Besten und schickt sie per Wahlmänner (Germanisten im Ausgedinge) an die Bestenlisten-Redaktion.

Im ersten Durchgang wird meist das Premium-Buch der Saison aus dem Verlagskatalog abgeschrieben.

Im zweiten Durchgang kommt dann immer das Geschlecht zum Tragen (in diesem April gab es etwa auf der Bestenliste des ORF neun Frauen und einen Bosnier, weil er gerade gestorben war)

Im dritten Durchgang kommen jene Themen zum Zug, die bei den Buch-Messen in den Vordergrund gerückt werden. Seit Jahren sind das im Dreierschritt Migration – LGBTQ – Cancel Culture

Nach drei Monaten Bestenliste wird schon wieder herumtelefoniert, ob nicht etwas Gefährliches in der Luft liege und ob nicht ein Verlag eine Schweinerei im Programm hätte, die es zu denunzieren gelte. Die Bestenlisten sind für Insider gedacht und beeinflussen keine Kaufentscheidung, außer dass sie bei Subventionsansuchen beigelegt werden, wenn eine Kulturabteilung wieder einmal unauffällig-staatstragende Romane fördern soll. Die Literatur spielt sich in diesen Kanälen mit preisgebundenen Kryptowährungen ab, es gilt das Subventionsstanding und nicht der Verkauf.

Man könnte noch seitenlang über die Segmentierung der Literatur und ihre Neigung zu Blasenbildungen räsonieren.


Melancholie als Weltliteratur

Hinter diesen Beschreibungen steckt wohl auch ein Schuss Melancholie, dass früher einmal die Literatur staatstragende Eigenschaften hervorgebracht hat.

Im Kalten Kriegsdreieck AUT-BRD-DDR war die österreichische Literatur ein gerngesehenes politisches Argument, wenn es darum ging, Selbstbewusstsein und Neutralität unter der Fahne zu zeigen. Ein Rest dieser großen Idee findet sich noch in der Anekdote, dass Österreich auf manchen Kontinenten immer noch als Weltliteratur-Macher gilt, weil es ja das noch lebende Nobelpreispärchen Jelinek-Handke in der Umlaufbahn segeln hat.


Eisstock-Pyramide

Die demographische Leserschaft hat man Jahrzehnte lang als Sanduhr dargestellt: unten der Kegel mit den Kids, ab vierzehn die totale Ausdünnung auf null, und später die Erweiterung bis ins breite Feld der Senioristas, die in ihren guten Jahren bis zum Tod oft ganze Epochen nachlesen wollten.

Heutzutage muss man für dieses Bild die Konturen eines Eisstocks hernehmen: eine solide Platte mit den Kids, die in der Grundschule in Schulbüchereien betreut werden, dann der obligate Einbruch mit vierzehn, und später nur ein dünner Griff, der in die letzten Jahresringe der Lesenden hineinragt. Denn auch die lesenden Alten sind dünn gesät, weil sie schon alles kennen, was erscheint.


Illusionslust – Lustillusion

Das Lesen hat mit der Fähigkeit zur Illusion zu tun. Wer sich darauf verlässt, dass andere ihm ein Illusionshäuschen bauen, indem sie gute Literatur zur Verfügung stellen, wird enttäuscht sein.

Die Leser haben zum Unterschied von den Arbeitenden im Literaturbetrieb die Möglichkeit, sich selbst die Literatur zu machen.

Ein gutes Buch ist immer nur jenes, das du durch Lust auf Illusion während der Lektüre gut werden lässt!


Literatur:
Helmuth Schönauer:
Buch in Pension. Tagebuch eines pensionierten Bibliothekars 4. 150 Rezensionen aus dem Jahr 2022. Mit einem Vorwort von Ronald Pohl.
Klagenfurt: Sisyphus-Verlag 2023. 354 Seiten. EUR 15,-. ISBN: 978-3-903125-77-3.

Annotation:
Im Projekt BIP (Buch in Pension) werden Bücher vom Endverbraucher gelesen und als Fließtext der Lektüre in Jahrgängen abgebunden. Die jährlich etwa 150 Bücher setzen sich aus den Schwerpunkten Literatur aus Tirol, aus der Peripherie in den Bundesländern und aus den Randlagen in der EU zusammen.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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