Helmuth Schönauer bespricht:
Andreas Maislinger
Sichere Bindung
Meine Kindheit 1955 bis 1970

Unterwegs im Netz geht der Blick immer wieder in Richtung jenes Buttons, der in der Kopfleiste des Bildschirms eine sogenannte sichere Verbindung anzeigt. Und alpinoide Menschen des vorigen Jahrhunderts können sich noch an jene Erfindung in den 1960er Jahren erinnern, als es plötzlich Sicherheitsbindungen gab, die das Überleben der Schisaison ohne Gips erst ermöglichten, indem sie bei Sturz rechtzeitig aufsprangen.

Andreas Maislinger lässt schelmisch diese Assoziationen mitschwingen, wenn er seine Kindheit 1955 bis 1970 unter den Titel Sichere Bindung stellt. Damit ist das ausgewogene Verhältnis zwischen aufregender Außenwelt und geordneter Innenwelt gemeint. Die Kindheit zeigt sich als Abenteuer mit open end, ehe äußere Umstände wie Studium, Ortswechsel ober Arbeitsaufnahme jäh einen Schlussstrich ziehen und das Erwachsenenalter ausrufen.

Die Kunst der Kindheitsbeschreibung gilt als anspruchsvolles Genre, weil jedes Kind in etwa das gleiche erlebt und dennoch die Ereignisse einmalig und unwiederholbar sind.

Andreas Maislinger hat sich für dieses Unterfangen ein raffiniertes Erzählmodell ausgedacht, indem er nach Wikipedia-Manier seinen Kindheitskosmos in sauberen Kleinessays und Informationseinträgen seinen persönlichen Schlüsselbegriffen der Erinnerung zuordnet. Es entsteht ein alphabetisch geordnetes Erinnerungslexikon, das man mit dem ermunternden Begriff emotionales Archiv überschreiben könnte.

Nach dieser Erzählmethode ist immer das Individuelle mit dem Kollektiven verknüpft, und das einmalige Ereignis stellt sich dem Diskurs mit einem fortwährenden Ritual.

Verknüpft man die einzelnen Begriffe zu kleinen Assoziationsketten, ergibt sich plötzlich ein plastisches Bild, worin sowohl die Zeitgeschichte als auch der individuelle Tagesablauf gleichberechtigten Zulauf haben. An manchen Stellen wird das Verfahren gleich mit erzählt. 

So glaubt das Kind sich selbst auf einem Bild zu erkennen, das der Nachbar als Maler zeitnah zu einem flüchtigen Gespräch ausgeführt haben dürfte. Beim Maler handelt es sich um den öffentlich bestens bekannten Georg Rendl, beim erinnerten Gemälde um eine flüchtige Begegnung mit Farbe, Licht und Gespräch.

An anderer Stelle ist vom Suizid eines Mannes und einer Frau die Rede, aber die Erinnerung hat sich zu einem Konglomerat aus zitierten Sätzen, überlieferter Zeitungsnotiz und Nachhall von längst vergangenen Sätzen verfestigt. Diese Verunreinigung der Quellen tut dem Ergebnis freilich keinen Abbruch, es bleibt ein Ereignis, um das herum sich Zeitgeschichte angesiedelt hat.

Für die Leser hat diese Erzählmethode mindestens drei große Vorteile:
a) Durch die alphabetische Ordnung entsteht jene Magie von Logik, von der vor allem Bibliothekare schwärmen, dulden sie doch kein anderes Gesetz als das alphabetische Anordnen von Wissen.
b) Durch die Wahl der Schlüsselwörter lassen sich die Geschichten mehrfach erzählen, indem aus einem Ereignis durchaus mehrere Geschichtsstränge abgeleitet werden können.
c) Durch Vernetzung der Schlüsselbegriffe erzählen sich manche Bilder wie von selbst. Beispiel: Fahrrad – Fensterln – Fernrohr – Fernsehen – Fix und Foxi. Allein diese fünf Begriffe erzählen die 1950er und 1960er im Hinblick auf Wissensvermittlung und Erfahrung.

Der spätere Politologe hat natürlich seine Erinnerungen unter dem Aspekt einer allgemein brauchbaren Geschichtsschreibung formuliert, zu diesem Zweck ist ein perfektes Register angeführt, das sich wissenschaftlich bestens nutzen lässt.

Manchmal genügt die Erwähnung eines ausgestorbenen Begriffes wie Gehschule, um die damalige Zeit zu evozieren, selbst wenn es wie im konkreten Fall darum geht, dass der Autor keine Erinnerung daran hat. Diese pädagogische Einrichtung Gehschule sagt andererseits eine Menge über die frühste Kindheit des Autors aus, der seine intensivste Zeit im Gasthaus seiner Eltern erlebt hat, worin ein Leben voller Gespräche, Emotionen und politischer Analysen abgelaufen ist, wie es später an den Universitäten nur mühsam in Gang gesetzt werden konnte. 

Schönes Bild: Während die Eltern den Gasthof als Uni betrieben, saß der Kleine gesichert in der Gehschule und bildete sich durch Zuhören weiter.

Keiner kann was für seine Kindheit dafür, aber was er in der Erinnerung daraus macht, das ist seine Persönlichkeit. So sind es oft intime Kleinigkeiten, die jemandem zu seinem persönlichen Drall verhelfen.

Im konkreten Fall ist es etwa die Legasthenie, die den Autor längere Zeit quält und erschüttert, ehe sie quasi über Nacht verschwindet. Geblieben ist ihm nur mehr die Angst vor Rechtschreibfehlern.

An anderer Stelle geht es darum, den Führerschein zu machen, quasi die Identitätskarte für ein Leben auf dem Land. Der spätere Widerstandsforscher freilich streicht das Erlebnis Auto aus seinem kulturellen Wahrnehmungsfeld und erhält dafür einen spielerischen Zugang zu jener Epoche, die später einmal als das Zeitalter des Autowahns beschrieben werden wird.

Und das Berührendste jeder Kindheit ist die Verabschiedung des Kindes von den Eltern. Im Epilog werden Vater und Mutter mit persönlichen Nachrufen gewürdigt. Der letzte Satz stammt vom Vater, der sich dem Satz fügt: Mein Zug ist schon abgefahren, aber noch nicht angekommen.

Andreas Maislinger hält, was der Titel verspricht: Auf eine sichere Bindung kommt es an. Und diese Erzählung ist safe!

Andreas Maislinger: Sichere Bindung. Meine Kindheit 1955 bis 1970.
Innsbruck: Studia 2024. 200 Seiten. EUR 19,90. ISBN: 978-3-99105-050-6.
Andreas Maislinger, geb. 1955 in St. Georgen bei Salzburg, lebt in Innsbruck.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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