Helmuth Schönauer bespricht:
Andrea Wolfmayr
Saustall
Der fünfte Roman aus der Provinz

Provinz ist ein anderer Ausdruck für Österreich. – Diese literarisch etwas unterkühlte Übertreibung weist darauf hin, dass die österreichische Literatur dann am stärksten ist, wenn sie unzensiert das erzählt, was auf dem weiten, kleinen Lande so passiert.

Andrea Wolfmayr führt mit dem Roman „Saustall“ die Protagonisten wieder einmal zu einer großen Familienaufstellung zusammen. Im mittlerweile fünften Band der Provinz-Saga sind wieder alle älter geworden, das merkt man schon am Einkaufstrolley, den manche von ihnen Tag und Nacht durch die Gegend schieben, um den eingeschränkten aufrechten Gang etwas abzumildern.

Und auch im Personenverzeichnis hat mittlerweile so mancher ein Kreuzerl, dass er verstorben ist.Und dass die Verstorbenen zuvor zu Lebzeiten ein persönliches Kreuz tragen mussten, versteht sich von selbst.

Am lustigsten sind bei einem Provinzroman stets Titel und Motto. Der Begriff Saustall bezeichnet landläufig eine scheinbar unaufgeräumte Situation, im Motto werden freilich die Kinderzeilen aus einem Beatles-Song zitiert, Have you seen the little piggies crawling in the dirt? Andererseits macht unter Saustall ein beliebtes Brettspiel gerade in der Weihnachtszeit die Runde, darin kann man sich ähnlich wie beim Mensch-ärgere-dich-nicht aus der Szenerie werfen.

Es folgen 42 Kapitel pure Epik, die aber didaktisch bestens aufbereitet sind. Jedes Kapitel formuliert per Schlagzeile eine Grundbefindlichkeit, wie etwa den Kirchensong Oh Haupt voll Blut und Wunden.

In einem kursiv gesetzten Absatz gibt es dann ein Summary der psychischen Befindlichkeit, und anschließend prasseln Witterung, Gerüche, Schmerz und Desaster auf die Person ein, die gerade ungewollt den Helden oder die Heldin geben muss.

Das Personenverzeichnis ist ähnlich umfangreich angelegt wie eine weitverzweigte Adelsdynastie aus vergangenen Zeiten. Mehrere Clans und Sippschaften präsentieren in der ersten Generation noch Ordnung, Beruf und Lebensaufgabe. In der nächsten Generation gibt es Hader, Verdruss und Scheidungen am laufenden Band, ehe die dritte Generation völlig entwurzelt zu einem zeitgenössischen Besiedlungsbrei führt, der als urban-rustikaler Aufstrich über das Land geschmiert ist.

Der Vergleich des sozialen Zusammenhangs mit einem Brotaufstrich kommt in den angefügten Rezepten zum Vorschein.

In Krisensituationen, bei Hormonausschüttungen oder Blutdruckabfall greifen die Figuren zu bewährten Hausmitteln. Am beliebtesten sind natürlich alkoholische Getränke, aber auch Hausmannskost, esoterische Kräuterorgien oder Backen, bis der Ofen bricht, können als Hausmittel eingesetzt werden.

In einem eigenen Nachschlag-Kapitel sind die Rezepte untereinandergeschrieben und ergeben so etwas wie eine Heilslehre, die über die kaputten Seelen gespannt ist.

Den Kern des Saustalls bildet eine weitverzweigte Anekdotensammlung aus dem Alltag in der flachen Provinz. Obwohl die einzelnen Abschnitte gleichwertig und gleichrangig ineinander übergreifen, entwickelt sich daraus eine Spannungskurve, die eine Art höheren Sinn vermittelt.

Im ersten Abschnitt kommen die Defekte zum Vorschein, die mit Tarnen und Täuschen bekämpft werden sollen. Die Helden versuchen einen Schein zu wahren, auch wenn sie darunter schon zusammengebrochen sind.

Der nächste Abschnitt stellt Maßnahmen vor, wie man ohne großen Aufwand über die Runden kommen könnte, vom simplen Carpe diem, über Ausreden suchen, bis hin zum Kurzfluch Scheiß ist hier alles erlaubt.

Im hinteren Lebensabschnitt reißen sich die Figuren noch einmal am Riemen nach dem Motto, das kann doch nicht alles gewesen sein. Hier werden alternative Lebensmodelle ausprobiert, Rituale aus dem Netz gesucht oder einfach Maßnahmen gesetzt, die irgendwie dem Aufwärmen der Seele dienen.

Am Schluss gibt es kalten Entzug, der sich als Schuss in den Ofen erweist. Eine Demo gegen den Verfall des Klimas hilft auch nichts mehr, die handelnden Personen stehen quasi neben sich und betrachten die eigenen Parolen, die in die entleerte Zukunft führen.

Die einzelnen Kapitel liefern in diesem großen Sinn-Bogen ständig Überraschungen und beste Überlebensrezepte. So ist eine Mörderin erstmals glücklich, als sie im Gefängnis die Mithäftlinge bekocht statt der eigenen Familie, die nur Verdruss gebracht hat.

Ein Autist wird zu einem Spiel eingeladen, er soll den Verwandten besondere Wörter zuweisen, die er für charakteristisch hält. Fast alle Bezeichnungen sind negativ, so manche Person wird vom Autisten in einer Art Schamanen-Weissagung als Versager, Spießer oder oberflächlicher Mutant bezeichnet.

Ein paar sind nach Mallorca ausgewandert und erleben dort die gleiche Soße wie jene, die in der Kernzone der Peripherie zurückgeblieben sind. Ursprünglich hat es Berufe gegeben, die identitätsstiftend waren: Buchhändler, Frühstückspensionistin, Wirtschaftsfunktionär, Bäuerin, Biobauer, Architekt, Designerin, Maler, Schlagzeuger, Altbürgermeister.

Mit diesen Berufsnamen wurden sie angesprochen, geachtet, und verachtet, wenn sie die Rolle nicht perfekt eingenommen haben. Mittlerweile sind alle mit allen verwandt durch Seitensprünge, Scheidungen und gehackte Selfies, die sich zu jeder Zeit inszenieren lassen.

Die nächste Generation ist dabei, sich wieder zu verlieben und aneinander zu riechen, sie wird alles so machen, wie es die Alten gemacht haben. Das ist das Spiel, das sich Saustall nennt.

Andrea Wolfmayr erzählt ungeschminkt und ungekürzt. Freilich verdichtet sich der Roman dabei zu einer ungeheuren Dystopie. In sieben Tagen wurde die Welt erschaffen, in 42 Kapiteln ist sie zur Provinz ausgewalzt und verflacht. – Eine grandiose Saga!

Andrea Wolfmayr: Saustall. Der fünfte Roman aus der Provinz.
Graz: Keiper 2022. 319 Seiten. EUR 22,-. ISBN 978-3-903322-66-0.
Andrea Wolfmayr, geb. 1953 in Gleisdorf, lebt in Gleisdorf.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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