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Helmuth Schönauer
Durchlaufen lassen
Stichpunkt

Auch unter den Begriffen gibt es so etwas wie Eintagsfliegen. Wie die biologischen Namensträger leben sie zwar etwas länger als einen Tag, aber man hat schon bei den Morgennachrichten den Eindruck, dass sie den Abend nicht überstehen. Für den Glossisten sind solche Eintags-Begriffe ein Horror, denn kaum hat man einen Artikel darüber geschrieben, kann man ihn auch schon wegschmeißen oder gleich in den Vorlass-Ordner hinüberschieben.

Plötzlich ist also der Begriff da vom „durchlaufen lassen“. Die üblichen am Virus beteiligten Personen erzählen an den Stehpulten, dass es jetzt mit den Infektionen so schnell geht, dass man es laufen lassen muss. Wir werden damit leben können, wenn wir es überleben. Endlich wird das Wort ausgesprochen, das bisher im Untergrund zirkuliert ist.

Anders ergeht es freilich der Polizei. Sie gibt parallel zu den Virologen den üblichen Jahresausblick und hat wie immer zu wenig Personal. Und dieses ist vermehrt im Homeoffice im Einsatz, weil sich auch die Kriminalität ins Netz verlagert hat.

Jetzt bietet sich aus der Parallele der beiden Pressekonferenzen eine nahezu geniale Vision für die Polizeiarbeit der Zukunft an. Wie wäre es, wenn man nicht das Virus, sondern die Leugner durchlaufen lassen würde?

Die Polizei sitzt im Homeoffice und überwacht die Stadt mit ihren mittlerweile überall installierten Demo-Kameras. Die Spaziergänger treffen sich zur Rudelbildung und zeigen Stinkefinger und Plakate. Aber niemand hält sie auf, niemand begleitet sie physisch, höchstens eine Drohne überfliegt sie von Zeit zu Zeit, mehr als Grußbotschaft denn als Überwachung.

Und auch die Presse ist verschwunden und lässt die Demonstranten ins Leere laufen wie ein Virus, das keiner sehen will. Am Abend kommen die Spazier-Demonstranten nach Hause und schauen die üblichen Demo-Kanäle, aber niemand berichtet was. Es gibt Ausschreitungen in Kasachstan und einen Tennisstar, der in einem Quarantänehotel sitzt, aber nichts von den gefühlten Massen, die sich eben noch durch die Innenstädte bewegt haben.

Ähnliches geschieht mit der Impfpflicht. Sie ist da und verordnet, aber man lässt sie auf österreichisch durchlaufen. Niemand interessiert es, ob jemand geimpft ist oder demonstriert. Das Virus schon gar nicht.

Aber dann sind wir ja überflüssig, sagt gleich einmal der Personalvertreter der Polizei. Nicht ganz! Irgendwer muss die Videobilder ja anschauen, ordnen und einen Akt darüber anlegen. Wer weiß, ob man nicht eines Tages wieder gegen die Demonstranten auftreten muss, und dann ist es gut, wenn man schon etwas Schriftliches hat, das beschleunigt die Verfahren später.

Die Aufklärungsjournalisten freilich werden das Gesicht verziehen, wenn sie keine Feindbilder mehr haben, die sie über den Bildschirm jagen können. Ja was sollen wir dann senden? In Tirol ist das Ersatzprogramm schon da: Schifahren! Zum Beispiel den ewigen Franz Klammer zeigen, wie er im gelben Rennanzug den Patscherkofel herunterrast, again und again. Das wäre hundertmal interessanter als Spaziergänger in der Innenstadt.

Auch den Klammer könnte man natürlich durchlaufen lassen. Bis der Bildschirm geschmolzen ist.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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