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Helmuth Schönauer
Die Zeit ist gratis.
Short Story


Seit der Bibliothekar in Ruhe das Wort Pandemie durch Pension ersetzt hat, passt so gut wie alles. Die Menschen stehen sinnlos im Stadtteil herum und reden über das eine, und meinen ohnehin das andere. Der einzige semantische Punkt, an dem das Vertauschen der P+P-Begriffe nicht funktioniert, explodiert am Monatsende, wenn die Pension auf das Konto überwiesen wird. Da kannst du wirklich nicht mehr sagen: Ich gehe schnell zur Bank, um die Pandemie abzuholen!

In diesem Monat fällt der P-Punkt auf einen Dienstag, das bedeutet, dass man auf dem Weg zur Bank noch den ehemaligen Kleinfrächter vom vierten Stock im Mullhaus trifft. Kurz bevor die Papiercontainer nämlich für die Entleerung an die Gehsteigkante geschoben werden, wühlt sich der ehemalige Kleinspediteur in Stückgut-Manier durch die drei riesigen Kunststoffbehälter, in denen in der Hauptsache Werbezeug liegt. Seit der Pandi freilich ist das Papieraufkommen stark zurückgegangen, denn niemand tut sich mehr das Herumblättern in Broschüren und Katalogen an, wenn es Online mit einem Wischer zu erledigen ist.

In der Wohnanlage weiß man, dass man unter der Woche nichts Vertrauliches ins Abfallpapier werfen darf. Erst wenn es auf offener Straße steht, bewahrt es sein Geheimnis, da niemand im Angesicht des heftigen Straßenverkehrs darin herumzustierln wagt.

Kaum dass der Mullstierler den Bank-Geher hört, blickt er erfreut auf und beginnt einen Witz zu erzählen, der seine Spannung in drei Stufen entfalten soll. Treffen sich drei Frächter, sagt der eine… Da sagt der Bibliothekar auch schon: „Ich zeig dich an!“

Der Mullstierler bedauert, dass ihm die Pointe aus dem Mund genommen wurde, und berichtet, dass er ganz unten im zweiten Container einen Arztbrief gefunden hat, wonach jemand gewisser nicht mehr richtig hinten hinaus sein Geschäft machen kann. Aha! Ich habe mir immer schon gedacht, mit dem stimmt etwas nicht!

Ihm selbst geht es gut, wie den meisten in der Wohnanlage, die schon geimpft sind. Und noch was, im Cyta habe ich mir eine neue Uhr gekauft, eine mit einem militärisch gestylten Armband, und stell dir vor: Die Zeit ist genau die gleiche wie bei der alten! Der Alte kriegt sich nicht mehr ein, als er doch noch auf die Schnelle etwas zum Erzählen findet: Ich habe die Uhr im Highspeed-Modus gekauft und ohne Garantieschein ums Handgelenk binden lassen, während die alte beim Service bleiben musste, wie man heute zum Uhrmacher sagt. Eine neue Batterie war fällig. Dann hast du jetzt zwei Uhren? Eigentlich drei, weil am Nachtkästchen hab ich noch eine Funkuhr, dafür aber kein Handy.

Wenn alles gesagt ist, kann man in diesem Stadtteil das Gespräch abbrechen, ohne dass es auffällt. Ob sie nun den Mund aufmachen und etwas herauslassen, oder ihn geschlossen halten und sich etwas denken: Es geht bei allen um nichts.

Die Zentralachse des Westends, wie diese Gegend genannt wird, heißt Mitterweg, weil man keinen besseren Namen gefunden hat. Unauffällig wie die Straßenbezeichnung sind auch die Menschen, die ab und zu darin aufhältig sind. Niemand strolcht durch die Gegend oder flaniert herum, was auf hohes Bildungsniveau schließen ließe. So grüßen sich zwar alle, aber niemand hat etwas zu sagen, wenn er auf Geschäftsgang zur Bank, zum M-Preis oder dm-Markt ist.

Dabei gäbe es tausend Sachen zu bemerken, die so in einem Kopf vorgehen, wenn er mit Schritten durch den Mitterweg getragen wird. Von den Radfahrern wissen wir nichts, weil sie meist mit dem Fitness-Tracker beschäftigt sind. Und die Motorisierten sprechen, wenn überhaupt, nur mit dem Getriebe, falls sie auf einer Aprilia sitzen, oder innerhalb der Fahrgastzelle mit sich selbst, wenn es ein Gerät mit Verbrennungsmotor ist.

Da man nichts von den Gedanken der anderen weiß, wenn man nicht mit ihnen redet, bleibt als einzige Quelle der Kopf des Bibliothekars, der am Monatsende seine „P“ abholt.

Dabei kommt ihm eine allgemein gehaltene Notiz in den Sinn:

Auf dem Covid-Dashbord gibt es ein Nullsummenspiel, es haben sich in einer bestimmten Gegend gleich viele neu infiziert, wie genesen sind. Wie bei jedem Nullsummenspiel haben zwar beide Teile für sich einen Sinn, gemeinsam aber sind sie sinnlos. Die Neuinfizierten gewinnen für sich Nutzen, wenn sie entsprechend psychologisch betreut werden, und auch die Psychologenschaft zieht Nutzen daraus, wenn sie den Erkrankten erklärt, wie wichtig ihre Krankheit ist. Dafür gibt es dann eine kleine Entschädigung von den Krankenkassen. Der Rest ist Selbstbehalt.

Mit dem Selbstbehalt kann sich der Psychologe eine neue Couch kaufen, was wieder das Tischlereiwesen ankurbelt. Obwohl, die Couchen werden heute fast alle in Großmärkten vertrieben, weshalb der Satz, ich gehe zu meinem Ikea, durchaus auch bedeuten kann, ich gehe zu meinem Psychologen, der eine Ikea-Couch hat.

Jetzt erinnert die Notiz schon stark an das Märchen vom Hans im Glück, wo eine Erleichterung die nächste jagt. In pandemischen Zeiten sind es Steuererleichterungen, die überall Glück hervorbringen. Der Goldklumpen des Rentners ist der Chip, den er am Monatsende in den Bankschlitz steckt, worauf wieder ein Monat Frohsinn herauskommt.

Solange übrigens jemand erzählen kann, wie er zu seiner Rente kommt, sollte er nicht ins Altersheim gesteckt werden! Das Leben ist so aufregend, wenn man es sich selber erzählt.


Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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