Helmuth Schönauer bespricht:
Stephan Alfare
Neuneinhalb Finger
Roman
Ein aufregender Roman stützt sich durchaus auf einen großen Gestus, mit dem er in der Hand gehalten wird. Manche Romane sind geradezu für das Lesen „on the road“ geschaffen: man denke nur an die fetten Narko-Thriller aus weichem Papier, die von einer Hand mühselig gehalten werden, während die andere versucht, mit fünf Fingern einen Joint zu drehen.
Stephan Alfare hat seinen Roman „Neuneinhalb Finger“ in den Umschlag-Gestus eines Thrillers gesteckt, der fette, biegsame Buchblock krümmt sich unter dem erhaben gedruckten Cover eines Hinrichtungsstuhls, auf dem ein Zigarrencutter liegt.
Dieses Bild führt stracks zur Schlüsselszene des Romans: Dem Schriftsteller und Ich-Erzähler Leon Schillinger wird ein Stück Zeigefinger abgeschnitten, denn er ist in den Augen seines Gegenübers „Schriftsteller und geschwätzig“. (395)
Dieser erzählende Heroe muss folglich sein Leben als Schriftsteller mit Neuneinhalb Fingern bewältigen. Aber er setzt eine tolle Gegenmaßnahme, er hört auf mit dem Schreiben, weil es ohnehin zu viele Bücher gibt. (432)
Auf einen einfachen Lektüre-Nenner gebracht geht es im Roman um den Austausch der Begriffe Idole und Rituale in den Anwendungsfeldern Gangster und Literatur.
Mit einer leichten Drehung sind die beiden Welten vertauscht, und aus einem drogenabhängigen Psychopathen wird ein Schriftsteller und umgekehrt. Eine leise Andeutung an Jack Unterweger darf mitgedacht werden, denn wie beim literarischen Häfen-Genie der 1980er Jahre häufen sich auch im Roman die Schlagzeilen von Ermordeten, sobald der berüchtigte Gangster-Schriftsteller Töffels vorbeischaut.
Dieser Töffels ist der radikale Gegenspieler des Ich-Schreibers, seine Biographie als Soziopath lässt ihn sowohl als Kriminellen als auch als Schriftsteller reüssieren.
„Als kleiner Junge von fünfeinhalb Jahren verwünscht er sein Schwesterchen. Dann ist es soweit, sie stirbt an Lungenentzündung, Vater erhängt sich an der Türklinke, Mutter wird in die Nervenheilanstalt gebracht, er quält am Bauernhof der Großeltern die Tiere, bringt jede Katze um, die ihm unter die Finger kommt, er braucht keinen Grund zum Töten, den Hass muss er nicht aufbauen, den hat er schon.“ (38)
In der Literatur und im Kriminellen Milieu sind die Zeiten meist aufgehoben, weil immer Gegenwart ist. Der Roman spielt folglich in der Gegenwart, wenn sich die Leser mit der Erfahrung aus 2022 in diverse Erinnerungslabels zurückfallen lassen.
Um 2006 spielt sich ein Großteil der Haupthandlung ab: wenn die Figuren ihr Tun zu erklären versuchen, fallen sie ins vorige Jahrhundert zurück, wo das Leben sich noch so abgespielt hat, wie wir es heute als Literatur lesen.
Der Plot besteht aus dem ständigen Mix von Zeitebenen, worin sich dann doch eine Art logische Handlung ausmachen lässt.
Gleich zu Beginn reist Schilling auf der berühmten Beatnik-Route von Feldkirch über Innsbruck im Nachtzug nach Wien. Innsbruck dient dabei als Ort für eine schnelle Zigarette und ist deshalb der sympathischste Höhepunkt der Reise, die in den 1980ern tausende Studenten und Künstler aus dem Westen des Landes antreten, um in Wien schnell etwas zu erleben und dann frustriert in den Westen zurückzukehren.
Dem Helden kommt auf dieser Anreise zum eigenen Roman der Koffer abhanden, es sind drei Bücher drin und Drogen. Der Verlust der Bücher schlägt sich auf die Psyche, jener von Drogen auf die Überlebenssicherheit, denn natürlich warten in Wien Gangster auf die Westware, die der Provinzler mit dem Nachtzug anliefern soll.
Im Wiener Milieu sind alle Schriftsteller, die krumme Dinge drehen – teils mit Drogen, teils mit Stipendien und Büchern. Jeder Schriftsteller hat sein Revier abgesteckt und wenn man ihm in die Quere kommt, schlägt er zu. Und natürlich sind alle ständig angetrunken, jedes Bier ist ein Gedicht!
Anlässlich einer solchen Fehde kommt es zur Fingeramputation des Helden, der Gegner zwackt ihm zwei Glieder des Zeigefingers ab, damit er nicht mehr schreiben kann.
Der wahre Grund ist freilich, dass man den Zeigefinger braucht, um mit Fingerscan den Mercedes vor der Tür zu öffnen und zu klauen.
Im Milieu ist es üblich, dass alle verwandt sind, zumindest was Stil und Methode betrifft, der Erzähler hat eine Halbschwester und einen Halbbruder, beides Künstlerexistenzen am Rande der Gesellschaft.
Anlässlich eines Stipendiums reist die Truppe ins Münsterland, wo auf einem entlegenen Gut alle Künste aufeinander treffen sollen für ein Gesamtkunstwerk.
Schon auf der Anreise gibt es Tote, denn der berüchtigte Töffels ist auch mit von der Partie. Wo er gewesen ist oder „eine Lesung gehalten hat“, findet man anderntags Tote, die als Schlagzeilen auf die Titelseiten verfrachtet werden.
Im Laufe des Stipendiums kommen allerhand künstlerische Verbrechen ans Tageslicht, die sich die anwesenden Künstler bei Trink-Abenden gegenseitig herausprügeln oder depressiv einander vorweinen.
Zwischen Kunst und sozialer Entgleisung sind die Grenzen fließend. Angetrunken lesen zwei Schriftsteller um die Wette und prügeln sich dann um die richtige Sichtweise. Jemandem vorzuwerfen, dass er wie eine Sau schreibt, gilt als Anerkennung. Im Umgang mit den Künstlern kommt es leicht zu Perversitäten.
Gerade im religiösen Milieu einer Kirche oder im Buchstabenmilieu einer Buchhandlung können die Rituale fließend in Sex übergehen. Nichts ist hässlicher als ein Galerist, der vor seinen Bildern auf Sex aus ist. Eine funktionierende Galerie gleicht einem Etablissement in Amsterdam, worin Sexarbeit als Kunst betrieben wird.
Manchmal verwechseln selbst die Künstler alles, fangen am Tisch mit dem Sex an, stehen auf, gehen zum Regal und lesen den Sex fertig, ohne mit jenem am Tisch fortzufahren. (266)
In den nüchternen Phasen am Gutshof sind sich alle einig, der Buchhändlersex ist der grausigste. Kunst in Griechenland ist eine Ausrede. Die Anmache im Verlagsjargon ist pure Gewalt.
Tagsüber arbeitet die Künstlerschaft, eine Asiatin ist mit Komponieren beschäftigt, eine Halbschwester des Erzählers hat eine Sexarbeiterin aus Amsterdam mitgebracht, die eine künstliche Vagina schnitzt, in welche Stunden später der angetrunkene Töffels hineinbrunzt.
Der Erzähler hat inzwischen eine „innere Kamera“ entwickelt, die dem inneren Monolog entsprechen soll. Zu diesem Zweck hat er das Innere des fetten Musil-Romans „Der Mann ohne Eigenschaften“ entkernt und eine Kamera eingebaut.
Als der rabiate Töffels aus heiterem Himmel einen Polizisten erschießt, der als Vertrauensperson in der Verlegerszene gegolten hat, reicht es der Truppe. Sie fesseln den Gewaltschriftsteller und zwingen ihn, einen Thriller auszuspucken. In kurzen Atemstößen wird der bisherige Roman als atemloser Thriller nacherzählt.
Jetzt ist Zeit für einen großen Abgang. In einem Dortmunder Pissoir wird der Bösewicht auf einen Stuhl gefesselt sich selbst überlassen. Die Künstler verabschieden sich, und werden in die sogenannte normale Welt zurückfahren, um das Stipendium zu vergessen.
Der Erzähler wird es wirklich endgültig mit dem Schreiben lassen, seit er sich sagen lassen muss: „Leon, es gibt zu viele Bücher!“ (432)
Und als Leser schüttelt man sich: so tief in die Provinz der Weltliteratur hat man schon lange nicht mehr eintreten dürfen. Was immer der Satz auch heißen mag: Stephan Alfares Roman ist ein Untergrundbestseller!
Stephan Alfare: Neuneinhalb Finger. Roman.
Wien: Dachbuch 2022. 443 Seiten. EUR 20,60. ISBN 978-3-903263-47-5.
Stephan Alfare, geb. 1966 in Bregenz, lebt in Wien.
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