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Helmuth Schönauer
Stalinmaske
Stichpunkt

Vermutlich in jeder Familiengeschichte gibt es ein paar Intellektuelle, denen in der Mitte des vorigen Jahrhunderts das Studium an einer größeren Provinzuniversität nicht gut bekommen ist, und die dann Kommunisten geworden sind.
Ein paar davon sind noch vor Hitler nach Moskau geflüchtet, um sich zu verwirklichen.

Dabei kamen viele in den GULAG, so dass man später zu Hause in Tirol sagte, da hätten sie gleich beim Hitler bleiben können. (Als Kinder stellten wir uns unter GULAG übrigens eine Gulaschkanone vor, weil wir in den Bilderbüchern nichts Passendes zu dem Wort fanden.)

Als Stalin starb, kamen die Überlebenden aus Tirol zurück nach Tirol und waren vor allem stumm. Manche sagten später, wenn sie in den psychotischen Schüben eine Pause machten, dass es furchtbar gewesen sei. Im Angesicht dieser Erzählungen haben einige aus dem Geburtsjahrgang 1953, der unter Eingeweihten der Stalin-Todesjahrgang genannt wird, ein Studium der Geschichte und Literatur begonnen, um den Hintergrund dieser abenteuerlichen Zeit ein wenig auszuleuchten.

Während die meisten im Trampelpfad der Naziaufarbeitung unterwegs sind, gibt es in den Nischen der Geschichtsschreibung noch aufregende Projekte, Künste und bürokratische Vorgangsweisen, die man nicht missen möchte, wenn man sie einmal kennengelernt hat. Die russischen Wissenschafts-Freunde Tirols machen deshalb so alle vier Jahre eine Ausstellung, die sowohl in Moskau und Sotschi, als auch in Innsbruck gezeigt wird.

Die Ausstellung des Staatlichen Literaturmuseums Moskau ist von 8.6.-16.7.2021 in der Hauptbibliothek zu sehen (Organisation: Russlandzentrum der Universität Innsbruck). Dabei geht es um die letzten Jahre des Stalinismus und nennt sich „Literatur der Hoffnung und Stagnation | 1946-1953“.

Als Inhaltsangabe dient eine kleine Notiz: „Das erste Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg ist geprägt vom Beginn des Kalten Krieges, sowie von politischen und kulturpolitischen Repressionen in der Sowjetunion. Gleichzeitig zelebriert die politische Macht sich selbst in offiziellen Ritualen und Zeremonien, und Werbeplakate verkünden die Rückkehr zur Normalität nach den Entbehrungen der Kriegsjahre. Anhand von Einzelporträts namhafter Kulturschaffender aus Literatur, Musik, Film und Theater, wie Anna Achmatova, Boris Pasternak, Dmitrij Šostakovič oder Sergej Eisenstein, entsteht das Porträt einer Zeit, in der Kulturschaffende öffentlich diffamiert werden, während man die Günstlinge des Systems mit Staatspreisen ehrt.“

Vermutlich auf die Pandemie zurückzuführen ist die Hilflosigkeit, mit der die Eröffnung abgewickelt wurde. Die Festgäste und Fans waren mit gehörigem Abstand aufgestellt und fühlten sich tatsächlich wie auf dem Appellplatz eines Lagers, als die Festrednerschaft zu sprechen begann.

Bei den österreichischen SpeakerInnen fällt vor allem die Genderei auf, die man in dieser Viskosität schon lange nicht mehr gehört hat. Sergej M. Maguta, der Generalkonsul der Russischen Föderation aus Salzburg, spricht wie das Väterchen Russland persönlich, wobei ihm die erstaunliche Körperähnlichkeit mit Boris Jelzin zugutekommt.

„Dass wir Stalin einmal mit Maske begegnen werden, hätten wir so nie zu träumen gewagt“, sagt jemand, von dem wir nicht wissen, wie nahe er Stalin sonst ohne Maske steht.

Da wir auf eine echte Ausstellung mittlerweile reagieren wie eine Sonde, die am Mars niedergeht, beeindruckt uns alle das Haptische. Nach Monaten, in denen wir nur den Bildschirm berühren durften, fahren wir mit den Fingerkuppen die Stelen entlang, in denen die russischen Bilder und Texte aufgespannt sind. Als kleines Gadget ist auf Deutsch die Zusammenfassung angefügt, sie hängt jeweils wie ein Glückwunschbillett an der Kante der Installation.

Dieses wortlose Herumgehen zwischen den Informationsständern entspricht exakt den Bildungsformen des Stalinismus. Wer einmal in der russischen Provinz eine Ausstellung oder ein Heimatmuseum besuchte, wird sich freudig daran erinnern, dass das Gezeigte eher einer Devotionalie entsprach, als dass daraus Bildungssätze abgeleitet werden konnten.

Für die Imitation der stalinistischen Aura gibt es daher fünf Sterne! Größtes Lob verdient auch jene Schau-Stellage, worin gezeigt wird, wie die diversen Stalinpreise für Literatur, Musik und Film vergeben werden. Hier besticht vor allem die Analogie zu den österreichischen Staatspreisen, die exakt dieser stalinistischen Manier entsprechen.

Als drittes begeistert vor allem die Unbedarftheit, mit der zu allen Zeiten der Geist der Kunst dargestellt wird. Auch im Stalinismus gelingt es nicht, den Geist einer Schriftstellerin oder eines Musikers darzustellen. Die Bilder zeigen vielmehr Versteinerungen, und in den fossilen Gesichtern lässt sich die Verachtung ablesen, mit der jeder Künstler, der noch halbwegs bei Sinnen war, der Obrigkeit begegnete. Alle diese Stalinpreise haben etwas Herabwürdigendes an sich, wie wir es, in wesentlich harmloserer Ausformung, auch von den Österreichischen Preisen gewohnt sind.

Die Ausstellung zeigt auch die Grenzen der Digitalisierung auf. Alles Gezeigte ist im Netz mannigfaltiger zu sehen. Aber auf den Sound kommt es an: Im GEIWI-Hof der Innsbrucker Universität zu stehen und einen Lagerappell nachzuspielen, das ist großes historisches Kino!

Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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