Helmuth Schönauer
Lärmgeil, eine psychiatrische Sitzung
Stichpunkt

Was ist Ihre Traumstadt? ‒ Auf diese Frage des Psychiaters wird der Klient auf der Couch klug mit einem Bild antworten, das ihm als Kind in einem Bilderbuch vermittelt worden ist.

Das Traumgebilde hat etwas von der Überschaubarkeit einer mittelalterlichen Stadt: unten wird gearbeitet, oben gewohnt, der Geruch wird nicht vermittelt, weil Träume immer geruchlos ablaufen.

Für einen anderen Traum muss oft ein südliches Städtchen herhalten, wo du der einzige Tourist bist und mit ein paar alten Männern Kaffee trinkst. Die Sonne scheint, und die Frauen sind mit dem Esel am Feld bei der Arbeit.

In beiden Fällen wird der Psychiater sagen: Es ist also Mischgebiet, was Ihnen so gefällt! ‒ Und wo wohnen Sie?

Da sprudelt es aus mir heraus:

Ich wohne in einem Mischgebiet im Westen der Stadt. Gewerbe und Wohnen sind so ideal vermischt, dass die Grünen ständig Fotos von uns machen, um allen zu zeigen, wie gesund man in einem Mischgebiet lebt.

Freilich habe ich auch Pech. Wegen meines erbärmlichen körperlichen Zustands als Rentner kann ich mir nämlich keine Reisen zu Motorradrennen in Spanien oder Italien leisten. So kann ich auch nicht genau abschätzen, wie lange ich ein Rennen überhaupt aushalten würde.

Aber dann habe ich doch wieder Glück! Die Rennen kommen im Frühjahr zu mir vor die Haustüre, das verdanke ich dem Mischgebiet.

Wochenlang trainiere ich schon das Zuschauen in der Exlgasse, wo man ein Motorrad-Center eingerichtet hat. Jeder, der eine neue Maschine übernimmt, fährt eine Proberunde. Das gilt auch für die frisch reparierten oder von der Einwinterung befreiten Fahrzeuge.

Damit die Polizei nicht weiß, wo die Proberennen stattfinden, hat man die braunen Straßenschilder mit brauner Farbe übersprüht. In Innsbruck löst man die Entnazifizierung heikler Namen dadurch, dass man sie braun macht, sei es als Hintergrund oder überhaupt.

Die Stadt Innsbruck ist, was das Planen betrifft, etwas vom Weitsichtigsten, das sich in den Alpen zu einer Kommune ausgeformt hat.

Damit die Rennstrecken in der Stadt nicht mit einer 30er Beschränkung aus dem Genre Wohnkultur verunmöglicht werden, hat man jede zweite Gasse als Gewerbebetrieb ausgewiesen, wodurch sich Proberennstrecken leicht integrieren lassen.

Ich stehe also am Vormittag, wenn der Schulverkehr eingeschlafen ist, an meiner Exlgasse, und sehe den Motorrädern zu, wie sie für das Wochenende trainieren.

Wenn das ganze Land von den aufjaulenden Motorradkonvois heimgesucht wird, bin ich der einzige, der Ruhe bewahrt. Ich habe mir den Motorradlärm während der Woche in kleinen Dosen angelernt und halte ihn jetzt sogar als Masse aus.

An dieser Stelle unterbricht der Psychiater: So wie Sie Ihren Fall schildern, wären Sie ja der erste Mensch, der durch Motorradlärm geheilt worden ist?

Nicht ganz, ich werde nämlich von den Hörempfindlichen verachtet, weil ich so lärmgeil bin. Das tut weh, weil nur der mechanisierte Teil des Mischgebietes nett zu mir ist, der menschliche Teil macht Fenster und Türen zu, wenn ich vorbeigehe mit meiner Lärmlust.

Der Psychiater vertagt und stellt mir bis zum nächsten Termin eine große Hoffnung ins Fenster: Angeblich ist eine EU-Norm in Vorbereitung, wonach jeder Anwohner das Recht auf regelmäßige Beschallung in Anspruch nehmen darf.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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