Print Friendly, PDF & Email

Helmuth Schönauer bespricht:
Andreas Pavlic
Die Erinnerten
Roman


Wahrscheinlich ist Dollfuß einfach zu klein gewesen, als dass sich die Literatur mit ihm beschäftigt hätte. In der Österreichischen Literaturszene rätselt man schon seit Jahrzehnten, warum der eine Österreicher mit Schnauzer ständig Thema in Aufarbeitungsromanen ist, während man den kleinen katholischen Uniformträger, der das Land in eine formidable Diktatur geführt hat, jeweils elegant thematisch umschifft.

Andreas Pavlic liefert mit seinen „Erinnerten“ einen höchst notwendigen Vorstoß, der die zwei Haupteigenschaften eines historischen Romans mustergültig auf den Lesetisch legt. Einmal ist es die Themenwahl, die jeden historischen Roman elementar bewegt, und zum anderen der Erzählstandpunkt mit der Fragestellung: Wie kann ich etwas scheinbar Abgeschlossenes erzählen, dass es offen wird für die Gegenwart?

Der geniale Erzählstreich fußt in der Überlegung, dass man die Geschichte immer von den Gräbern her erzählen soll. Wenn alle Protagonisten auf gleichem Niveau unter der Erde liegen, gilt der berüchtigte Spruch über den Innsbrucker Friedhof zu Wilten: „Hier sind alle gleich wichtig, nämlich gar nicht.“

Erzähler des Romans „Die Erinnerten“ ist der Sohn des Ehepaares Annemarie und Johann, die sich privat zueinander gerungen haben, um anschließend nicht zu wissen, wohin sie aus der Zeitgeschichte fliehen sollen. Denn die 1930er Jahre führen in die Katastrophe, wo immer man sich auch hinwendet.

Der Sohn und Icherzähler ist freilich schon gestorben. Er berichtet, dass beim Sterben die Zeitgeschichte vorüberzieht wie der sprichwörtliche Roman des eigenen Lebens. Sterben ist das Gegenteil von Schlafen, denn es tritt alles plastisch und unaufgeregt zu Tage. Wobei nichts geschönt wird, die Schuld bleibt Schuld, die falsche Entscheidung bleibt falsch, auch wenn man tot ist. Andererseits ist unter der Erde alles ausgewogen, die Gräber haben keine Kraft, sich um das Verwesen von Belanglosigkeiten zu kümmern.

Der Sohn lässt seine Eltern als Helden allein mit sich, wenn sie sich 1932 anlässlich der „Höttinger Saalschlacht“ in Innsbruck kennenlernen. Letztlich wissen sie mit der Politik nichts anzufangen, außer möglichst viel zu tanzen, weil das noch am ehesten politisch unverfänglich ist, um schließlich doch mit den Nazis ein unauffälliges Auskommen zu finden, nachdem die beiden großen Träume jener Zeit, Hollywood oder Sowjetunion, sich nicht haben verwirklichen lassen. (Alle Strömungen und Abläufe lassen sich in einem fließenden Satz darstellen, ohne dass deshalb eine zwingende Logik für die Entscheidungen vorläge.)

Der tote Erzähler fasst diese Unentschlossenheit seiner Eltern lapidar zusammen. Es gibt für die Träume einfach Umlaufbahnen – die sind nicht für jeden zu erreichen. Der Hollywood-Traum stammt aus den Filmen, der Sowjettraum geht auf eine Reportage von Stefan Zweig zurück, in der er Russland als plausible Sozialutopie beschreibt.

Die Auseinandersetzungen zwischen Sozialdemokratie, Nazis und Hahnenfüßen führen abwechselnd zu Arbeitslosigkeit, ins Lager Wöllersdorf, oder nach Dachau. Wie immer man sich entscheidet, es kann in einem Lager enden.

Das befreundete Ehepaar Thusnelda und Romed wählt den Weg des Widerstands und sieht sich bald verhaftet und ins Lager verbracht. Den angepassten Eltern widerfahren hingegen Fronteinsatz (Johann) und Luftschutzkeller (Annemarie).

Das bedrückende Innsbrucker Föhnwetter ist eine apokalyptische Kulisse für die Bombardierungen durch die Flying Fortress, auch wenn man die Explosionen überlebt, machen sie was mit der Psyche. Der tote Sohn verweist auf das reinigende Element der Bombardierung hin. Dadurch, dass die Innsbrucker selbst sehen, was ihre Liebsten andernorts schon verbrochen haben, können sie sich zumindest im Schrecken mit der eigenen Schuld auseinandersetzen.

Außerhalb der Bombenabwürfe ist Innsbruck einfach eine einfache Stadt, zu einfach für Menschen mit politischem Bewusstsein, ideal zum „einfach mitlaufen“. (70)

So wie die Helden in die Nazizeit hineingelaufen sind, so easy entnazifizieren sie sich anschließend wieder. Annemarie versucht, aus roten Stoffbahnen mit Bettlaken dazwischen eine Österreichfahne zu nähen, Johann ist mit kaputtem Arm von der Front zurück und wechselt bei der Bewachung der Innbrücke die Seiten und wird Widerstandskämpfer wie fast alle, die gerade in der Nähe sind.

Der Sohn erzählt, wie er unauffällig gezeugt worden ist, wahrscheinlich die einzige bewusste Handlung seiner Eltern, und auch da ist er sich nicht sicher, ob er ihnen nicht einfach herausgerutscht ist. Unauffällig ist auch seine Kindheit vonstattengegangen, erst als er sich zuerst in die Schweiz und später nach Graz abgesetzt hat, fühlt er sich erstmals „angenehm entwurzelt“. (63)

Und jetzt, wo er selber gestorben ist, kann er das alles ohne Stocken erzählen wie ein Historiker, der die Quellen kühl hält, um nicht durch Fehlschlüsse selbst zu überhitzen.

„Die Erinnerten“ sind ein Meilenstein in der Kunst historischen Erzählens. Dass Innsbruck als idealer Feldversuch für eine Literatur aus dem Grab heraus erkoren wird, erweist der Stadt fast schon zu viel an Aufmerksamkeit.

„Es ist eine Freude, dieser heutigen Jugend zuzusehen“, sagt jemand beim Trachten-Gaufest. „In diesen Gesichtern ist nichts Unnatürliches mehr. Diese Kultur ist Ausdruck der uralten Formung des Tiroler … der Tiroler Anpassung an die Natur und ihrer Gegebenheiten.“ (103)

Andreas Pavlic: Die Erinnerten. Roman.
Wien: Edition Atelier 2021. 221 Seiten. EUR 22,-. ISBN 978-3-99065-058-5.
Andreas Pavlic, geb. 1974 in Innsbruck, lebt in Wien.

Wenn Ihnen schoepfblog gefällt, bitten wir Sie, sich wöchentlich den schoepfblog-newsletter zukommen zu lassen, und Freundinnen und Freunde mit dem Hinweis auf einen Artikel Ihres Interesses zu animieren, es ebenso zu tun.


Weitere Möglichkeiten schoepfblog zu unterstützen finden Sie über diesen Link: schoepfblog unterstützen

Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

Schreibe einen Kommentar