Helmuth Schönauer
Landräumung
Short Story

Weiter, weiter! Einsteigen! Haut endlich ab! – Die sogenannten Evakutoren sind brutale Hunde. Sie kommen aus allen EU-Ländern und werden auf die Bevölkerung losgelassen, wenn es was zum Abwehren, Umsiedeln oder Evakuieren gibt.

Heute ist das Wipptal dran, nachdem vor ein paar Tagen auf der Autobahn zwei Chemikalien-Transporter zusammengestoßen sind, von denen der frühere Brandmeister Angrymeier aus Innsbruck gemeint hat, „Dann ist der Landstrich ausradiert!“.

Das Wipptal ist human-geologisch jetzt ein einziges Geschluchze. Menschen, die darin jahrzehntelang neben der LKW-Schneise zu wohnen versuchten, heulen mit den Transitmotoren um die Wette. Die Almtiere brüllen den Sommer über, wenn sie auf den Weiden für den Selfie-Stierkampf herhalten müssen. Und selbst das Gelände kann nie das Maul halten und bricht nach jedem Regen als großes Gebiss in die Tiefe.

Es ist dieser starke Heimatglaube, der die Menschen zuerst in Schützenuniformen kriechen und anschließend an die Scholle krallen lässt. Mit Überlebenslogik hat diese Sonderform der Wut, mit der die Bewohner auf „bodenständig“ machen, nichts zu tun.

Jeder, der durchfährt, fragt sich spätestens am Gardasee, was wohl die komischen Käuze auf den Grasmatten siedeln lässt, die dem Dauerföhn bis in eine Bodentiefe von dreißig Metern ausgesetzt sind.

Seit ein paar Tagen ist alles aus. Verseucht. Zerstört. Von der EU zur Räumungszone erklärt. Die Bewohner haben 72 Stunden Zeit, um abzuhauen.

Als Lehrfilm wird allen eine Reportage über Bergkarabach aufs Handy gespielt. Dort hatten nach dem letzten Krieg die Bewohner ebenfalls 72 Stunden Zeit, das Gebiet zu verlassen. Die meisten haben die Häuser angezündet, damit sie nicht dem Feind in die Hände fallen. Putin persönlich hat die Absiedlung überwacht, damit endlich Frieden herrscht in dem kargen Gebiet, das ausschließlich als Transit für die Truppen von Nutzen ist.

Der sogenannte Alpin-Putin soll noch in Brüssel weilen, vermuten einige, und auch sonst ist von den einheimischen Politikern nichts zu sehen. Seilbahnoligarchen und Frächterbosse hatten ja noch vor dem Chemie-Unfall geputscht und mit der EU eine Quicky-Vereinbarung getroffen.

„Wir siedeln das Wipptal ab, damit der Transit nicht gestört ist, umgekehrt schickt ihr uns jede Menge Downhill-Mountainbiker, damit wir in den übrigen Tälern auf Tourismus machen können!“

Zugrunde liegt der Strategie das Armenien-Modell, wo Bergkarabach an das islamistische Aserbaidschan übergeben wurde, um das christliche Kernland zu retten. Ähnlich gehen jetzt die Putschisten vor: Sie treten das Wipptal an die Frächter ab, um wenigstens in den Kernschigebieten noch ein Geschäft zu machen.

Während die Wipptaler unter großem Geschluchze die letzten Sachen zusammenpacken, graben ein paar die Lärmschutzmauern aus, um sie nicht dem Feind zu überlassen. Sie haben das bei den Armeniern gelernt, die in ihren verlorenen Klöstern  die Grabplatten ausgegraben haben, um sie vor der Schändung zu bewahren.

Jetzt fällt den Wipptalern ihre fehlende antike Kultur auf den Kopf. Da sie keine Grabplatten besitzen und historisch gesehen nie etwas anderes als Transit erlebt haben, müssen sie jetzt das ausreißen, was ihnen zur Heimat geworden ist: Die Lärmschutzmauern.

Wohin die Evakuierten kommen, ist unklar. Vermutlich in eines der Touristentäler, wo man aus ihnen in Schnellkursen Köche und Zimmermädchen macht, weil an allen Ecken und Enden die servilen Fachkräfte für den geschätzten Gast fehlen.

Der Bibliothekar beendet die Kurzgeschichte für diesen Monat. Er muss seinen Kids regelmäßig einen Nachweis von Geisteskraft abliefern, damit sie ihn nicht in ein Altersheim stecken. Gerade ist es noch einmal gut gegangen. Und ein weiteres Monat in Saus und Braus garantiert. Die Kurzgeschichte ist die ideale Form für eine solche Überprüfung. Außerdem lässt sich daraus immer noch eine Verfilmung machen.

Die Geschichte von der Landräumung wäre filmisch nämlich besonders günstig umzusetzen. Man müsste bloß die Kamera in Richtung Autobahn halten. Die Putschisten mit ihrem holprigen Gebrabbel könnte man aus dem Off hören, weil sie keine fotogenen Gesichter haben. Aber ihre gröhligen Stimmen sind gut und hässlich. Wie geschaffen für ein geräumtes Land.

Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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