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Helmuth Schönauer bespricht:
Peter Paul Wiplinger
Einschnitte
Gedichte

„Mein Gedicht ist mein Messer“ schreibt Hans Magnus Enzensberger 1961 und lässt erahnen, was ein Gedicht letztlich bewirken kann: Nämlich eine Epoche, ein subjektives Zeitgefühl und das historische Bewusstsein zu zerschneiden in vorher und nachher.

Für Peter Paul Wiplinger ist dieser Messer-Satz ein intensiver Einschnitt, allmählich begreift er die Zäsur, die die Nazis über sein Leben, seine Angehörigen, das Dorf und das Mühlviertel überhaupt gelegt haben.

Dieser Einschnitt über eine Zeit gelegt, als Gedichte verboten waren, prägt ihn ein Leben lang und gibt sein Lebensthema vor: Das Vorher nie zu vergessen, was immer auch im Nachher an gutmütigen oder gutwütigen Wörtern verstreut werden mag.

Ästhetisch führt diese Messerattacke der Literatur zu einem verschärften Bewusstsein, die Botschaften werden klarer und spitzer, letztlich entstehen „Lapidargedichte“ (6), die in versteinerten Fügungen sich eingerichtet haben, um vielleicht als Fossil die Erdgeschichte zu überdauern.

Jetzt im Alter häufen sich die Einschnitte, jedes Gedicht kann das letzte sein, wer weiß, ob sich daraus überhaupt noch ein Gedichtband ergibt, jeder Tag stellt plötzlich das ganze Leben in Frage, in der Fülle der Einschnitte verliert der Stoff jeglichen Zusammenhang, die Sätze werden scharf wie Munition, spitz wie Sprechwerkzeuge.

Und über allem schwebt ein Motto ohne Schwerkraft aus dem Bewusstsein hinaus: „Nichts von damals ist heute noch gültig.“ (9)

Der Putinsche Überfall im Frühjahr 2022 ist schon längst eine Metapher für Zeitenwende und Weltuntergang geworden wie der berüchtigte August 14 oder der 1. September 1939.

Das lyrische Ich zweifelt an seiner Erkenntnisfähigkeit, vielleicht ist alles nur ein „Wörterüberfall“ (10), belanglos wie das berühmte Diktum vom eingangs zitierten Enzensberger: „Das Fernsehen ist ein Nullmedium!“ (1988)

Aber die Sachlage steht Knopf auf Spitz, in einem Dutzend von Gedichten arbeitet sich der Autor an der Un-gestalt Putins ab, Zitate, Querüberlegungen und Repliken auf andere Diktatoren bringen ihn nicht zur Strecke, Putin bleibt nicht beschreibbar. Kein Befreiungsschlag durch ein Gedicht in Sicht!

Allmählich schälen sich aus dem Desaster des Frühjahrs 2022 Kindheitserinnerungen heraus, in der Kindheit wird alles mild, heißt es, aber die schlimmen Bilder gehen nicht weg.

„KINDHEITSERINNERUNGEN // dunkel erinnere ich mich noch / an das heulen der sirenen / an das im-keller-sitzen // dunkel erinnere ich mich noch / an den eisernen granatsplitter / der den kasten durchschlug // dunkel erinnere ich mich noch / an das leise rosenkranzbeten / und an den erdäpfelgeruch […]“ (29)

Später ist von den beiden Brüdern die Rede, die im Krieg waren, in Russland und der Normandie, jetzt ergibt sich eine Erinnerung, als ob sie in der Ukraine gewesen wären.

Und wenn einmal eine Lücke entsteht zwischen der überfallenen Gegenwart und der verfallenen Kindheit, dann tut sich die eigene Biographie auf mit einer schier unerträglichen Aussicht.

„DIESES WARTEN // dieses warten / daß du stirbst // dieses lange warten / daß du bald stirbst // und du erlöst wirst / von deinem leiden // und wir nicht mehr / darauf warten müssen / daß du endlich stirbst“ (47)

In diesem Warten gibt es keine unverfänglichen Tätigkeiten mehr, jeder Handgriff kann als das große „Ausräumen“ (53) gedeutet werden. Das Wort Friedhof ist in diesem Gedicht noch für jemand anderen gemeint, der gerade verstorben ist, aber im Hintersinn malt sich das lyrische Ich den eigenen Friedhof aus, wenn nach angemessener Zeit die Kränze beiseite geräumt werden, damit wieder eine freier Blick entsteht – worauf?

Auf Rom etwa, das den Autor ein Leben lang fasziniert hat. Jetzt wird dieser ewigen Stadt der letzte Besuch abgestattet.

„jetzt bin ich endlich hierher zurückgekehrt / zu dieser herzstation meiner lebensreise“ (60)

In der zweiten Hälfte des Bandes werden die Einschnitte immer heftiger, allein schon die Themen der Gedichte zeigen den rasenden Zustand des lyrischen Ichs.

„untersuchung (69) / tage des glücks (76) / gemeinsamer tod (84) / abschiedstour (88) / entrümpelung (91) / letzte anordnungen (94)“

So sehr die Texte auch Wunden reißen, vor allem, wenn die Träume nicht resilient genug sind, so sehr muss man ihnen lesend dankbar sein. Was wäre, wenn das alles nicht gesagt werden könnte, was Gedichte schaffen, es zu sagen?

„MÜHLVIERTEL // Die Hopfengärten / sind schon stillgelegt. // Kein Gasthaus mehr / „Zur schönen Aussicht“. // In den Ortszentren / nur Auto-Blechsalat. // „Begegnungszonen“ / ohne einen Menschen. // In Hochglanzprospekten / Reklame für Touristen. // Angepriesen das Land / als „Erholungsgebiet“. // Groteske Kitschwelt / anstatt Lebensrealität. // Man geht jetzt überall / mit der modernen Zeit.“

In diesem Mix aus Kindheitserinnerung und Zukunftsaffront haben die Begriffe keinen Halt mehr und müssen in Anführungszeichen gesetzt werden. Mit einem kalten Duktus streicht die Reflexion über den Herbst, der als Fremdling über der Kindheit und dem Ort liegt. Je schöner die Wörter klingen, umso wertloser ist das Zeug, über das sie gestülpt sind.

Eigentlich lässt es sich leicht loslassen von diesem Mühlviertel, an dem man vielleicht ein Leben lang gehangen hat. Vor allem wenn man die letzten Zeilen leicht verändert liest: „Man geht jetzt überall!“ Das heißt, überall hauen sie ab. „Mit der modernen Zeit“, am besten als modernd lesen, die Zeit aus Moder!

Peter Paul Wiplinger: Einschnitte. Gedichte 2021–2022.
Wien: edition pen Löcker 2022. 135 Seiten. EUR 19,80. ISBN 978-3-99098-145-0.
Peter Paul Wiplinger, geb. 1939 in Haslach, Gymnasium in Hall in Ti
rol, lebt in Wien.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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