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Helmuth Schönauer
Outlet
Short Story

„Wenn du keine Shortstory zusammenbringst, stecken wir dich ins Altersheim!“
Die Kinder sind gnadenlos, zumal, wenn sie gut ausgebildet sind. Sie haben Entertainment, Psychologie, Theologie und Politikwissenschaft studiert, lauter Fächer, die den Vater in die Verwahrung bringen können, wenn er nicht mehr richtig drauf ist auf seiner blassen Lebensspur.

Der Vater war ein Leben lang einfach zu alt für seine Kinder und hat zu allem, was wie eine Frage klang, mit einem Zitat geantwortet. Kein Wunder, als Bibliothekar hatte er vor allem gelernt, mit sich selbst ins Gespräch zu kommen. Jetzt haben die Kinder das Sagen, auch wenn er das Geld hat. Er merkt, wie er in vielen Bereichen aus der Zeit fällt. Vor allem fehlt ihm das Sensorium für die Probleme der Gegenwart. Entweder etwas ist früher besser gewesen, oder der analoge Denkansatz hinkt den Erfordernissen der Ist-Zeit hinterher.

Mit den Kindern ist ausgemacht, dass sie einmal im Monat zu Besuch kommen und einen Test machen, ob er schon reif ist fürs Altersheim. Die Shortstory gilt seit den 1950ern als anerkannter Test für den Geisteszustand. Unzählige Schriftsteller von Hemingway abwärts haben sich an diese Kunstform herangepirscht, um vom bevorstehenden Suizid abzulenken. Auch Vater hat in einer frühen Geschichte, die wie ein Langgedicht eines Beatniks wirkt, den schönen Satz untergebracht: „Wenn ich schon 1953 nicht habe abgetrieben werden dürfen, dann möchte ich wenigstens 2020 in einer Sterbeklinik alles schmerzfrei beenden!“ Dieser Satz ist mehrdeutig, weshalb die Kinder empfehlen, er soll einfachere und vor allem eindeutige Sätze verwenden, wenn er seinen monatlichen Schreibtest ablegt.

Vater ahnt die Gefahr, die von langen Sätzen ausgeht. Nicht umsonst reden Alzheimer-Kranke in Schleifen wie der hochberühmte fränkische Dichter Jean Paul, der mit seinen „titanischen“ Sätzen versucht hat, aus den Trinkschleifen auszubrechen, die sein Gehirn umschnürt hatten. Die beste Methode, zu kurzen Sätzen zu kommen, die noch dazu einen anglizistischen Touch aufweisen, ist die doppelte Übersetzung mit der Google-Maschine. Man übersetzt dabei einen schlichten Text zuerst ins Amerikanische, und in einem gesonderten Vorgang, damit es Google nicht merkt, vom Amerikanischen zurück ins Deutsche. Vater arbeitet monatlich damit, wenn er eine Short Story zum Überleben braucht. Die Internetverbindung freilich muss passen, sonst geht es stracks ab ins Altersheim, wo sie außerdem kein Glasfaserkabel haben, so dass du nie mehr herauskommst.

Jetzt heißt es, die drei Fassungen sauber auseinanderzuhalten und in das Shortstory-Formular zu übertragen.

A: In einer Vorabendserie wird jemand ermordet, der tagsüber mit einer Kutte unterwegs ist. Als man im Laufe der Untersuchung seine Soutane inspiziert, fallen aus dem sauber gefalteten Stoff dutzende getrocknete Ministranten, man spricht von einem getrockneten Missbrauch.

B: In an early evening series, someone is murdered who is out and about in a robe during the day. When you inspect your cassock in the course of the investigation, dozens of dried acolytes fall out of the neatly folded fabric, which is known as dried abuse.

C: In einer frühen Abendserie wird jemand ermordet, der tagsüber in einem Gewand unterwegs ist. Wenn Sie Ihre Soutane im Verlauf der Untersuchung untersuchen, fallen Dutzende getrockneter Akolythen aus dem ordentlich gefalteten Stoff, der als getrockneter Missbrauch bezeichnet wird.

Das hört sich schon ganz gut an und liest sich wie geschmiert. Jetzt braucht es noch eine kurze Einleitung und einen „shorten“ Kern. Das ist tatsächlich ein Vorteil der Short Story, dass man bis ins hohe Alter damit arbeiten kann, ohne die Aussetzer zu bemerken, die jeder Schriftsteller jenseits der fünfzig hat.

„Der Bibliothekar ging am Vormittag in den Schlachthof, worin noch kaum Fleisch hing. Die Schicht hatte erst begonnen. Auf dem Dach des Schlachthofes hatte man ein Gymnasium gebaut mit Griechisch und Latein. In den Klassenräumen, die mit Lüftungsfiltern aus Schweinedarm ausgestattet waren, hatte schon der Unterricht begonnen, und es war so still, dass man die Todesschreie der Schweine einzeln hören konnte.“

Dieser Start der Geschichte ist bereits so markant, dass er nicht hin und her übersetzt werden muss, um die volle Ekelwirkung zu entfalten. Der Beginn der Short Story ist das Entscheidende. Der sogenannte Kern kann durchaus etwas weichgeklopft ausfallen, zumal der Sinn ja darin besteht, dass genug Text zum Scrollen vorhanden ist.

„Der Bibliothekar trat seinen täglichen Gang durch den Ruhestand an. Er rechnete nicht damit, etwas zu erleben, und war ziemlich erstaunt, als er im Outlet-Center neben dem Schlachthof einen pakistanischen Friseur sah, der stumm und in Maske einem Pensionisten die Haare schnitt. Der Pensionist hatte doppelt bleiches Haar, einmal war es das Alter, das ihm die Pigmente aus der Frisur getrieben hatte, zum anderen war er ein Leben lang in einer Tiefgarage angestellt gewesen und hatte außer Dieselschwaden keinen Zuspruch von der Welt erfahren.
Der Pakistani arbeitete stumm wie für Zuschauer, die an der Fassade vorbeigingen. Der Behandelte hingegen war völlig in der eigenen Maske versunken, aus der ein dünner Faden Sabber rann. Er wusste wahrscheinlich nicht einmal, wie man in der einheimischen Sprache zu diesen Vorgängen sagte, die da rund um sein Gesicht stattfanden.

Manche Beobachtungen haben ein Fade-Out wie rare Jazznummern, die sich von innen heraus beenden. Der Bibliothekar hatte genug gesehen, um es für ein Erlebnis zu halten. Er schritt noch hinüber zur Fleischbank, die im Hinterteil des Schlachthofs als Outlet-Laden angelegt war, und kaufte sich ein Kotelett.“

Als die Kinder für dieses Mal kommen, schauen sie nur kurz auf die Short Story und nicken, weil die Zeilenanzahl erreicht ist. Vater hat sich wieder einmal eine Gnadenfrist erschrieben.

Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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