Helmuth Schönauer bespricht:
Ulrike Kotzina
Jenseits des Abgrunds
Roman

Totalitäre Systeme vereinnahmen die Literatur seit jeher durch Sanktionen, Marktbereinigungen und Ehrungen. Am Beispiel der DDR-Literatur lassen sich diese Maßnahmen aus heutiger Sicht nüchtern beschreiben.

Es gibt freilich auch sublimere Formen des Totalitarismus, etwa wenn in einem Land nur mehr Bergbau, Digitalisierung oder Tourismus das Sagen haben. Diesen monumentalen Wirtschaftsformen ist eigen, dass sie in Sprache, Promotion und Leitbildern die Literatur kalt übernehmen und deren Bücher und Helden zu Werkzeugen des Regimes machen.

In Tirol ist beispielsweise das öffentliche Leben vollends dem Tourismus unterworfen, so dass es kein Wunder ist, wenn auch die Literatur mittlerweile mehr oder weniger freiwillig zu einer Tourismuseinrichtung geworden ist.

Ulrike Kotzinas „Jenseits des Abgrunds“ ist wohl freiwillig, zumindest aber unbedacht, zu einem Tourismusroman ausgewachsen. Mehr noch, die Gattung „Wellness-Roman“ wird mittlerweile diversen Buchungen beigelegt, wenn sogenannte Gäste nach Tirol fragen.

Die Handlung „jenseits des Abgrunds“ erstreckt sich über vier Tage, von Sonntag bis Mittwoch, und die vier Kapitel sind als Schlüsselfragen eines Paares formuliert, das anlässlich eines Luxusurlaubs in einem Tiroler Hotel mit sich selbst ins Reine kommen will.

Noah ist Architekt, Mira orthopädische Ärztin, beide zeigen der Gesellschaft mit ihren Berufen, wo es lang geht, sich selbst gegenüber agieren sie aber planlos. Die vorerst rätselhaften Fragen „Wer, zum Teufel, war Mira?“ (9) / „Können Sie mich hören?“ (59) / „Schlüssel? Welcher Schlüssel?“ (144) / „Nicht glücklich gelaufen?“ (204) werden durch die Aufarbeitung der Heldenentgleisung allmählich geklärt.

Zusammen mit einem befreundeten Paar, das im Roman die Aufgabe von Komparsen hat, um den versteinerten Monolog der Ärztin Mira in dramatisch erklärbare Dialoge aufzuweichen, sucht die Heldin ihren Noah, der schon vor dem ersten Frühstück aus dem Hotel verschwunden ist. Der Abgängige liegt indessen in seinem eigenen Monolog auf felsigem Gelände neben seinem Gleitschirm und fragt sich, wer er ist und warum er da liegt.

In harten Gegenschnitten entgleisen die beiden Protagonisten zusehends, beim einen treten Erfrierungen auf, bei der anderen der für Schreckenszenarien obligate Tinnitus.

In einer Nebenhandlung, dem Unterbewusstsein nicht unähnlich, taucht eine Antiquitätenfrau namens Annabel auf, die offensichtlich eine Affäre mit Noah schriftlich beendet hat. Dieser Brief wird im Hotel gefunden und führt verschiedene Spuren zusammen, die sogar von der hemdsärmligen Ortspolizei gesichtet und betreut werden.

Im Ausnahmezustand kommt es zu wichtigen Einsichten, die hinter dem Wellnessangebot liegen.

Als Noah schon den dritten Tag im Gelände liegt und die Frauen seiner Erregung zu verwechseln beginnt, gerät er in jenen Zustand, von dem abgestürzte Bergsteiger in Tirol gerne berichten: „Aber jenseits des Abgrunds befand sich die Sprache, und er könnte auch sagen – vermochte dies nun, da er Dichter war, Lyriker, Wortsuppenkünstler, Stacheldrahtdichter, Felsenpoet. Da ist der Abgrund und dort ist die Sprache.“ (150)

Andererseits dämmert Mira der wahre Sinn eines Wellnessangebotes in Tirol: „Wozu hatte sie überhaupt eine Suite gebucht? Um sich vorzuspielen, es sei alles mit der Buchung erfüllt: Noahs Ja reine Formsache, triviales Detail, der teure Urlaub gleich Beleg für das ersehnte ‚Ich will!‘?“ (206)

Kenner des Tourismusromans wissen, dass für die Lösung immer ein Helikopter angefordert werden muss, dieser gehört gewissermaßen zum Outdoorprogramm des Landes. Mira besteigt also diesen Wunder-Heiland, wie der Heli bei den Einheimischen genannt wird, und findet tatsächlich Noah im Felsen. Sie macht, was in den Prospekten steht, leiht sich einen Gleitschirm aus, fliegt zum Verunglückten in die Wand und birgt diesen mit heftigem Begehren. Zusammen gleiten sie aus dem Roman hinaus.

Manche werden diese Story als psychologischen Hammer lesen, der ein hilfloses Paar im Freizeitangebot der Alpen verrecken sieht, andere werden die Fünfsterneschilderungen inklusive Menüs und Abendbar genießen, die vom Tourismus Überrollten werden mit Schrecken feststellen, wie käuflich die Tiroler Literatur bereits geworden ist.

Gegen den Overtourismus ist in diesem Land kein Kraut gewachsen, und die Literatur ist in diesem Fall schon gar kein Heilmittel.

Ulrike Kotzina: Jenseits des Abgrunds. Roman.
Innsbruck: Edition Laurin 2021. 240 Seiten. EUR 21,90. ISBN 978-3-903539-03-7.
Ulrike Kotzina, geb. 1970 in Wien, lebt in Purkersdorf.


PS:
„Bestseller bespreche ich nicht, die hat schon jemand gelesen!“ Dieser Satz kann als Leitmotiv für jene 6000 Buchbesprechungen gelten, die Helmuth Schönauer seit 1986 verfasst hat und die als einmaliges Zeitdokument in einer mehrbändigen Buchfassung vorliegen. Schönauer bedient mit seinen Rezensionen nicht den Markt, sondern wendet sich an 2000 vor allem österreichische Bibliothekare und deren Leserschaft, aber auch an etwa 500 Autoren, von denen er die meisten persönlich kennt. Dieses Rhizom ist der Nährboden, aus dem seine deskriptive literarische Anthropologie erwächst, ein breit dahinfließender Strom des Zeitgeists und seiner Mythen, von dem besonders markante Beispiele den Lesern des schoepfblog allwöchentlich zur Verfügung gestellt werden.  (A.S.)

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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