Helmuth Schönauer bespricht:
Stephan Eibel
decke weg
Gedichte
Zu den spitzen Aktionen, die auf elementare Bloßstellung hinauslaufen, zählt sicher das pädagogisch fragwürdige Spiel „Decke weg!“. Dabei wird in großen Schlafräumen spontan kontrolliert, ob die Schlafklienten die Hände an der richtigen Stelle haben und nicht am Genital herumfuhrwerken.
Stephan Eibel hat ein feines Gespür für Fügungen, die das Ungeheuerliche in netten Bildern zu verstecken versuchen. Decke weg ist ein brutaler Befehl, der jahrzehntelang aus Internaten und dem Bundesheer ins Freie gedrungen ist, wo freilich niemand zugehört hat.
Die Situation der Entblößung ist ein zentrales Element in Stephan Eibels Lyrik. Einmal ist es das Ich, das völlig nackt aus einem Sachverhalt herauskommt, in den es nie geraten wollte. Ein andermal sind es kunstvoll aufgebaute Lügengebäude, die durch den einzigen Kuss einer wahrheitsliebenden Seele zum Einsturz gebracht werden. Jedenfalls ist immer etwas los und es besteht kaum eine Zeitritze für Kontemplation, wenn die Gedichte anheben, wie ein Wiener Vogerl in den Frühling zu starten.
„Wien“ stellt als Eingangsgedicht das lyrische Ich vor, das in der Folge wie in einem Windkanal durchgeblasen wird von der Härte des Alltags. „draußen ist es kalt, sehr kalt / hör im warmen zimmer / den wind pfeifen // für das glück / das ein vogerl sein soll / öffne ich das fenster nicht“ (7)
Das Wohlbefinden ist klar umrissen, es ist fragil und relativ, und zudem ist es anstrengend, ständig das Fenster im Auge zu haben. Ein echtes Gedicht muss einen Vogel haben, heißt es in der süffisanten Art, wie Beatniks ihre eigenen Texte beargwöhnen. Stephan Eibel entledigt sich der Aufgabe bravourös, er baut ihn stracks ins erste Gedicht ein, freilich nur als Gerücht oder Zitat aus dem Kosmos Wien.
Etwa ein Drittel der Texte sind im Dialekt verfasst, der sich klugerweise nicht transportieren lässt. Außerhalb der Stadtgrenze verfällt er nämlich und wird eine Marotte, innerhalb der Wiener Welt freilich vermag er Dinge zu sagen, die du ein Leben lang noch nie gehört hast und an denen du dich ein Leben lang nicht satthören kannst.
„a wann i stü bi / a waun i laut bi / wos vasteh oda net versteh // imma is wos“ (79)
Das lyrische Ich, dem die Decke weggezogen ist, windet sich nackt durch ein Diffusum, das auf den ersten Blick als Sand erscheint, worin sich mit bloßen Händen Geheimnisse vergraben lassen. Mythische Orte wie Bad Ischl, worin der Kaiser seine Zuckergussherrschaft ausgeübt und Weltkriege erklärt hat, sind Orte, wo es um Leben und Tod geht. Noch einmal von der Schaufel gesprungen tritt der Held seine Reha in Bad Ischl an, just zu einem Zeitpunkt, wo die ganze Welt in die Schockstarre der Seuche verfällt.
Du kommst aus dem zeitlosen zustand der Reha zurück in eine Welt, wo die Jahreszahlen fortgeschrieben werden. 2020, das Schutzmaskenjahr, und 2076, das Jahr, in dem Marlene fünf Jahre älter sein wird als das Ich heute, und Hannah neun, Bettina wird finnisch lernen (59). Über diese innigen Vorausrechnungen der eigenen Familiengeschichte entfaltet sich erst die Dimension der ablaufenden Ereignisse.
„zeiten ändern sich // die jugend von vorvorgestern / marschierte geschlossen / in der hitlerjugend // heute / streikt sie freitags / für ihre zukunft“ (22)
Zu allen Zeiten freilich ist das Verhältnis zwischen den Familienmitgliedern angespannt, wenn es zu dicht ausfällt. „Das Kind kommt nach Hause und muss liefern, die Frau kommt nach Hause und muss liefern, wer sagt das? Die Katze jedenfalls kommt nach Haus und lässt die Maus aus.“ (46) Ein ziemlich irrealer Versuch, das Home-Gefängnis wenigstens ansatzweise zu durchlüften.
Obwohl alle Organe drin sind, spüre ich kein einziges, sagt jemand, der sich nicht klar darüber ist, ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen ist. Und an anderer Stelle bedankt sich jemand so heftig, dass letztlich niemand mehr weiß, wofür und warum. Das ewige „danke sehr“ ist offensichtlich ein Programmierfehler der künstlichen Intelligenz, die bei Störung eine Floskel so lange wiederholt, bis daraus purer Rhythmus von Silben geworden ist.
Ein Hoch auf den Rollstuhl läutet jene Ära ein, in die selbst der wildeste Lyriker vorstoßen muss. Es ist die Zeit gekommen, einen zähen Lebenslauf von hinten her zu betrachten. Alle Weltrekorde der körperlichen Betätigung wären spielend möglich, gelänge bloß das Aufstehen!
Andererseits, wenn man die Jahre einzeln herunterbetet wie einen Auszählreim, ist für jedes Jahr immer noch jemand dagewesen, „der mi mog, so wie heut“. Dahinter steckt eine fast sprichwörtliche Weisheit, wonach das Bild der Zukunft nicht mit jenem der Vergangenheit ident sein sollte. Wer nach vorne blickt, sollte was anderes sehen, als wer nach hinten blickt.
Das sind die nackten Tatsachen, die zum Vorschein kommen, wenn die Decke weggezogen wird, und ein klarer Wind einsetzt: „draußen ist es kalt, sehr kalt“.
Stephan Eibel: decke weg. Gedichte.
Innsbruck: Limbus 2021. 94 Seiten. EUR 15,-. ISBN 978-3-99039-201-0.
Stephan Eibel, geb. 1953 in Eisenerz, lebt in Wien und schreibt für schoepfblog.
Helmuth Schönauer 24/04/21
wenn ich auch gern schreib, gern herumdicht
und wenn es auch sinnlos ist und absurd
sich herumzuquälen beim wörter finden
beim wörter weglassen
um auszudrücken, was in mir oder mit mir
so ist meine freude über eine rezension von helmuth schönauer,
peter pisa, heinz sichrovsky groß und gibt meinem schreiben
sinn.