Helmuth Schönauer
Drei Angriffe auf Parlamente
Stichpunkt

Auf der Feigheitsskala diverser Berufsgruppen könnte man die Historiker als ziemlich feig einstufen, während Glossisten eher als mutig bezeichnet werden sollten. „Feiger Glossist“ gilt fast als Schimpfwort, während man beim Historiker von vorneherein von „abgeklärt und ausgewogen“ spricht, wenn er sich zu einer These aufrappelt.

Diese Feigheit hat mit der Themenstellung zu tun. Der Historiker greift erst ein, wenn die Chose nicht mehr am Dampfen ist. Der gute Glossist hingegen kann sich seine Themen nicht aussuchen, er ist im Idealfall ein Getriebener der Zeitgeschichte.

Das Publikum reagiert auf diese Berufsgruppen unterschiedlich. Der Historiker wird einfach als unqualifiziert bezeichnet und gemieden, wenn die Erkenntnisse nicht passen. Der Glossist hingegen wird persönlich niedergemacht, wenn er auch nur eine Frage stellt, die sich aus dem Ablauf der Ereignisse ergeben könnte.

Diese Erklärung muss man vorausschicken, wenn man dieser Tage eine Frage stellt, die sich rund um den Jahreswechsel gleich an drei Orten aufgetan hat.

In Washington D.C. stürmt ein Tweet-gesteuerter Mob unter Führung eines Büffelmannes den Kongress und lässt weltweit das Blut in den Adern von Demokraten gefrieren. In Berlin stürmt ein Corona-gesteuerter Haufen zumindest die Treppen des Reichstags und wird von einer Handvoll Polizisten abgewehrt. Diese werden am nächsten Tag vom Bundespräsidenten mit einer Medaille ausgestattet, weil es so wenige sind und es sich kostengünstig abwickeln lässt. In Österreich stürmt eine von Gott gesteuerte Gebetstruppe unter Führung des Nationalratspräsidenten ins Parlament und hält eine Andacht ab.

Kann man diese drei Stürmungen vergleichen?

Im Sinne des Parlamentarismus ja, denn es macht ja nur einen optischen Unterschied, ob ein vulgärer Mensch seine Stiefel auf den Schreibtisch der Vorsitzenden legt, oder ein vulgär-religiöser Mensch seinen Rosenkranz auf das Pult knallt. Die Geschichte wird über diesen Sachverhalt urteilen, wenn alles abgekühlt ist und die Historiker aus ihren Mauselöchern schlüpfen.

Wir Glossisten stellen die Frage aber schon jetzt, weil wir ja die Pioniere der Geschichtsschreibung sind und den Stoff für die Historiker aufbereiten müssen. Das Publikum könnte sich im Idealfall an der Fragestellung beteiligen, ohne gleich über die Glossisten herzufallen, wie das in Österreich üblich ist.

Die Sprache der Gegenwart ist sich auch noch nicht sicher, was sie mit diesen Störungen anfangen soll. Üblicherweise gilt eine Parlamentsübernahme als Erstürmung, wenn sie von links kommt, und als Putsch, wenn sie von rechts kommt. Im Falle Österreichs handelte es sich nach dieser Lesart somit um einen Gebets-Putsch.

Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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