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Helmuth Schönauer bespricht:
Friedrich Hahn
Die späte Frau und andere Romangeschichten

Wie an einer Schleuse treffen Autor und Leser jäh aufeinander und müssen ihre Erfahrungslevel aufeinander abstimmen, damit der Text passieren kann. Eine elementare Bedeutung kommt dabei der Außenhaut des Textes zu, die diesen vor zu hartem Aufeinandertreffen mit dem Leser und seiner Realität schützt.

Friedrich Hahn gibt dieser „Außenhaut“ in seinen Romanen viel Platz. Zum einen installiert er raffinierte Rahmenhandlungen, in die er die Texte wie Bilder hineinmanövriert, zum anderen platziert er um den Kern des Romans allerhand Material herum, das diesen abfedert und vor Brüchen schützt wie Verpackungsmaterial.

Diese Absätze, Notate, Erinnerungsskizzen und Aphorismen laufen beim Autor mehr oder weniger getaktet ein und sind fürs erste keinem Genre zuzuordnen.

Ähnliches geschieht im Leser, auf den ebenfalls ungeordnet Sätze einstürmen. Friedrich Hahn leert diesen Bottich an Gedanken als weit gespannte Ideen aus, um sie zusammen mit dem Leser zu einem Roman zu ordnen und später im Abspann diesen wieder mit einem „Gedankenhaufen“ zu entlassen.

Im „Romangeschichten-Roman“ kann sich auf den ersten Blick alles zu einem größeren Gebilde auswachsen, die Sätze sind wie Nägel in eine Notizbuch-Galerie geschlagen und schreien förmlich danach, dass an ihnen etwas aufgehängt wird.

„Ich mache meine Runde und geh wieder wohnen.“ (28) Allein dieses „Wohnen als Lebenssinn“ ist eingedampft zu einer Literatur für den Ruhestand. Freilich kann sich jeder an diesem Satz bedienen und seine Geschichte darum herum aufbauen.

Im Roman „Die späte Frau“ geschieht das quasi als exemplarische Biographie und geht der Überlegung nach: Könnten sich die Geschichten hinter den Wohnhausfassaden und beim Billa so abspielen, wenn man den einzelnen Figuren nachgehen würde?

Heldin des Erzählkerns ist die pensionierte Krankenschwester Dora, deren Schwester gerade an Krebs verstorben ist. Das Mädchen Alice bleibt in diesem Unglücksambiente übrig. Nicht nur, weil Mutter gestorben ist, sondern auch weil Vater ein Pflegefall ist. Daraus entwickelt sich eine Wohngemeinschaft zwischen Tante und Nichte, eine Pflege- und Heilsgeschichte, und schließlich eine tiefgehende Beziehung quer über den Lebenssinn gespannt.

Freilich funktioniert dieses Lebensmodell nur deshalb, weil alle beteiligten Personen schon einmal in den sauren Apfel von gescheiterten Beziehungen gebissen haben.

Dora übersiedelt in die ehemalige Wohnung der Schwester, beim Einstandsfest nehmen die geladenen Gäste ihre alten Beziehungen mit, um zu testen, wie die Erinnerung in die neue Umgebung passt.

Dabei taucht auch der Exmann von Dora auf, Viktor hat endlich seine Graphic Novel fertig und den Künstlernamen „Matrix“ angenommen. Er verschaut sich am Fest in Gabi und geht flugs eine lose Verbindung mit ihr ein. Sie weiß noch immer nicht recht, wie man aus den Bruchstücken einer Ehe später wieder ein Bild zusammenkleben soll.

Das Mädchen Alice wünscht sich ein Kätzchen, das bei einem alleinstehenden Herrn abzuholen ist. Dieser fühlt sich wiederum von Dora angeregt, sodass alle „verschaut und glücklich“ sind, weil niemand ein Ende dieses Schwebezustand im Auge hat.

Die Lebensgeschichten lassen sich nicht erfinden, die kommen verlässlich und brutal über die Helden, wenn sie sich einen Moment lang wohlfühlen. Der Exmann stirbt und beim Begräbnis stehen die lose Geliebte und die lose Exfrau derangiert herum. Dann fangen sie einfach zu lachen an und gehen ins nächstbeste Kino, weil alles andere lächerlich wäre.

In dieses Drama brüchiger Beziehungen sind jede Menge Übungen eingeflochten, wie man dem permanenten Beziehungsdesaster entkommen könnte. Zum Beispiel durch kluge Wahl und Ritualisierung der alltäglichen Begebenheiten. Zentrum für ein halbwegs heruntergefahrenes Leben ist die Bananenwaage beim Billa. „Wenn du die eins drückst, wird alles für einen Moment hell, gelb und süß wie eine Banane.“

Ein anderes Spiel beim Überlebenstraining ist natürlich das Lesen. Nicht nur dass man ab und zu einen Roman zitiert, um eine bestimmte Sachlage zu beschreiben, auch das scharfe Abrubbeln der Wörter bringt allerhand Erkenntnisse. Wenn man beispielsweise nur Wörter mit der Vorsilbe VER liest, bricht man den Versuch bald einmal befriedigt ab, denn in der deutschen Sprache scheint an manchen Tagen alles verbogen, verstorben und verzagt zu sein. Gegen das Trübsal der Sprache ist das Leben dann fast ein Sonnenschein.

Du brauchst in der Liebe mehr Anläufe als Sprünge! (44) Auch so ein Satz, der sich erst sagen lässt, wenn er seinen Wahrheitsgehalt schon bewiesen hat. Wie überhaupt die Sätze ihre Geschichten von innen her auskleiden.

Gegen Ende hin kommt wieder die Methode der losen Konnotation ins Spiel. Als die Innengeschichte „erledigt“ ist, taucht ein Haufen Sätze auf, bereit für den nächsten Roman.

An unscheinbarer Stelle berichtet jemand von einer Abtreibung, und dass seine Schwester dadurch ins Schwarze Meer gespült worden ist. – Diese Notiz zieht vielleicht schon wieder einen Romangeschichten-Roman nach sich..

Friedrich Hahn gilt in der Literaturgeschichte als der Ombudsmann verlorengegangener Helden. Wenn diese schon mit dem Leben abgeschlossen haben, setzt er sie einen Leseabend lang noch einmal ins Licht. Und er moderiert ernst und überzeugend: Das Schicksal lässt sich nicht umformen und beschönigen, aber du kannst auf der Waage den richtigen Code drücken, dass es wenigstens gerecht gewogen wird.

Friedrich Hahn: Die späte Frau und andere Romangeschichten.
Oberwart: edition lex liszt 2022. 142 Seiten. EUR 19,80. ISBN 978-3-99016-220-0.
Friedrich Hahn, geb. 1952 in Merkengersch / NÖ, lebt in Wien.

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Helmuth Schönauer

Helmuth Schönauer (* 23. September 1953 in Innsbruck) ist Schriftsteller und Bibliothekar an der Universität Innsbruck. In seinen Romanen beschreibt er das Alltagsgeschehen skurriler Randfiguren auf dem Weg nach oben. Als beinahe lückenloser Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur ist er Vertreter der "low lectured edition". Im sechsbändigen Tagebuch eines Bibliothekars sind knapp 5000 Rezensionen aus den Jahren 1982–2018 zu einem durchgehenden Fließtext zusammengefasst, der chronologisch nach Erscheinungsweise der rezensierten Bücher geordnet ist. Dadurch ergibt sich eine zeitgenössische Geschichtsschreibung anhand von Lektüre. Schönauer ist Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung.

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