Helmut Schiestl
Maria unterm roten Stern
Weihnachtserzählung

1
Was tut der Junggeselle, wenn das Bier in seinem Glas keinen Schaum mehr macht?, fragte sich Neumeier. Und das am Heiligen Abend! Was war das für eine Peinlichkeit. Ein Bier ohne Schaum! So trank Neumeier zwar das Bier ohne Schaum, aß ein wenig und machte sich dann wieder auf in die Stadt.

In der überfüllten Bar, die Neumeier nun betrat, saß eine junge ihm Unbekannte neben ihm und roch nach Orange, oder roch sie nach Orgasmus? Er konnte es nicht sagen. Aber es hätte ihn aufgeregt, wenn zweiteres der Fall gewesen wäre.

Zu den Nachbarn hätte er gehen können, und mit ihnen auf das Weihnachtsfest anstoßen. Wollte er aber nicht. Lieber allein in der Bar sein. Über der Madonna hing der rote Stern. Es war eine beinahe magische Stimmung. Und er kannte viele, die sich nicht mehr beschenkten, ja die es mittlerweile lächerlich fanden, sich Weihnachten immer noch zu beschenken. Und immer mehr kommunizierten überhaupt nur mehr im Internet.

Eine junge Polin bot ihm an, mit ihr virtuellen Sex zu haben, mittels Skype und Webcam. Neumeier wollte nicht, weil er glaubte, dass es gefakt war. Kann aus der Liebe in Zeiten des Internets überhaupt noch etwas werden, fragte Neumeier sich. Er war sich dabei immer weniger sicher. Kann man das Leben schön finden, fragte ihn ein Schriftstellerkollege neulich. Neumeier sagte nein. Eigentlich nicht. 

Selbst wenn das eigene Leben schön verlaufen ist, dann heißt das noch lange nicht, dass das Leben im Allgemeinen schön ist. Dann hat man einfach Glück gehabt. Das Leben aber ist weder schön noch nicht schön.

Das Leben ist vielleicht ein Trichter, wo oben etwas Gröberes hineingetan wird und unten etwas Feinstofflicheres herauskommt, sagte darauf der Schriftstellerkollege. Dabei drängte er Neumeier immer mehr vom Barhocker, so dass dieser schon von diesem herunterzufallen drohte.

2
Die Musik zusammengerührt zu einem Brei und dabei eine Endlosschleife bildend, so ist zumindest für Feinfühlige, das Weihnachtsfest geworden, dachte Neumeier.

Er ging auf den Friedhof und dachte: Wie der Friedhof seine Toten präsentiert, aber ohne Lüge, wie sie manchmal vielleicht noch in den Todesanzeigen der Zeitungen zu lesen sind. Ihre Namen stehen da auf weißem oder schwarzem Marmor, in heller oder dunkler Schrift. Von Blumen bewacht. Meistens sind es die gleichen. 

Wie wird einmal mein Heimgang sein?, fragte sich Neumeier. Ein langsames von der Welt Gleiten, wie unter Anspannung, Anspannung der Angst, oder einfach ein Niedersinken im Schlaf?

Ob sie sich wohl alle – als sie noch lebten – auf ein Jenseits festgelegt hatten? fragte Neumeier sich. Oder ob sie eher ans Einschlafen gedacht hatten, ans Einschlafen nach einem stillen aber doch erfüllten Leben? Nichts davon stand auf ihren Grabsteinen oder Grabkreuzen.

Und dann ging Neumeier wieder zurück in die Stadt. In eine enge schmale Gasse hinein. In der ein grellrotes großes Feuerwehrauto stand, aber kein Brandgeruch zu riechen war. Und auch keine Rauchschwaden sichtbar. Erst nach ein paar Tagen konnte Neumeier in der Zeitung lesen, dass sich eine alte Frau mit ihrem Christbaum selbst angezündet hatte.

Den jungen Mann hatte Neumeier heuer am Heiligen Abend nicht mehr besucht. Weil es letztes Jahr zu einer Beleidigung zwischen ihnen beiden gekommen war. Der junge Mann hatte am Grab seiner Eltern mit ihm eine Flasche Wein trinken wollen, hatte dazu zwei Gläser und eben eine Flasche Wein mitgenommen und diesen schon geöffnet und mit ihm anstoßen wollen. 

Da hatte Neumeier nein gesagt und war gegangen. So hatte der junge Mann die Flasche Wein wohl alleine am Grab seiner Eltern ausgetrunken. Er wusste davon nichts mehr. Er hatte den Bus bestiegen und war zurückgefahren in die Stadt. Er war dort noch in ein Lokal gegangen und hatte sich ein Glas Wein bestellt und dieses dann alleine getrunken. Er hätte gerne mit der Kellnerin angestoßen. Doch diese hatte keine Zeit.

3
Die junge Frau hatte sich aufgeregt, weil sie das von ihrem Freund erhaltene Weihnachtsgeschenk – eine Polaroid-Kamera – nicht verwenden konnte, weil diese nur Schwarz/weiß-Bilder ausdruckte. Der Freund hatte das Geschenk bei einer weltweit agierenden Versandhandelsfirma erstanden und jetzt war natürlich guter Rat teuer gewesen. 

Es war der zweite Weihnachtsfeiertag und bei dieser Versandhandelsfirma telefonisch niemand erreichbar. So war die junge Studentin sehr traurig, weil sie ja jetzt kein Weihnachtsgeschenk von ihrem Freund hatte, welches sie herzeigen konnte, ihren Freundinnen und Freunden und wem immer auch sonst. 

Wahrscheinlich war die Kamera einfach kaputt, aber laut Onlinekatalog der Firma war dieses Gerät dort überhaupt nicht mehr eingetragen, was wohl hieß, dass es das gar nicht mehr gab und es also ein Auslaufmodell war. Da schaute die junge Dame blöd drein. Sie war schlecht drauf und schimpfte wie ein Rohrspatz, so dass Neumeier schon dachte, jetzt beginnt sie gleich zu weinen. Was sie dann aber doch nicht tat. 

Ihre Mutter sagte dann noch, sie solle bloß froh sein, dass sie hier leben könne und nicht etwa in der Ukraine, da würde sie jetzt nämlich ganz andere Sorgen haben, da würde es nicht um eine Kamera gehen, die nur Schwarz/weiß-Bilder mache, da ginge es schlichtweg ums Überleben. Das konnte die junge Tochter zwar auch nicht beruhigen, aber es kam dann ohnehin etwas im Fernsehen, und das besänftigte die junge Dame erstmal.

Die Sonne ist ein gelber Hund. Sie brennt von innen sozusagen aus, ehe an ihrem Ende alle ihre Planeten in sie hineinkrachen. Aber das dauert noch etwas. Also droht uns da vorerst keine Gefahr. Trotzdem – oder gerade deswegen – wäre es vielleicht schön, ihr dabei zuzusehen, wenn man das noch könnte. 

Dann wird die Sonne wie eine reife Frucht, als kleiner weißer Zwerg enden, und noch später dann als schwarzes Loch den Rest ihrer Umgebung vernichten.

4
Neumeier war erneut auf den Friedhof gegangen und hatte am Grab seiner Eltern aus abgebrannten Streichhölzern ein Mikado auf den Rand der Grabeinfassung gelegt. Einen kleinen Streichholzbrief an meine Eltern hatte er es genannt und fotografiert. 

Dann hatte er das noch frisch eingepackte Schild am Eingang des Psychiatrischen Krankenhauses aufgenommen, das noch nicht leuchtete, nur die Kabel und Leuchtstoffröhren schimmerten durch das Verpackungsmaterial hindurch. Gegen Depression hilft nicht einmal ein Rausch, dachte er. Und weiter: Das sollte man wohl in das neue Schild hineinschreiben, sozusagen als Warnung für alle die, die es nicht für möglich halten wollten, dass das nicht ging. Wie auch kein Sex mehr möglich ist in einer Depression. Und wenn das Mädchen oder der Junge noch so hübsch und sexy ist. Da geht einfach nichts mehr! 

Dann ging Neumeier wieder zurück in die Stadt. Er war nicht depressiv. Nicht jetzt. Aber gut ging es ihm auch nicht. Alles ein Gedankenkarussell, dachte er.

Robert Walser war Neumeier wieder eingefallen. Wie dieser am Morgen des Weihnachtsfeiertags tot im Garten der psychiatrischen Anstalt Herisau in der Schweiz gefunden worden war, tot im Schnee liegend, sein Hut etwas abseits von ihm. Der Hut war ihm vom Kopf gefallen durch den Sturz. So blieb alles liegen, der Leichnam und der Hut, eine makabre Szene im Schnee abgebend.

Vielleicht kriegen es die Frauen nie auf die Reihe, wie es mit uns Männern läuft, dachte Neumeier. Und musste darüber lachen. So dass er mitten in das Gesicht einer ihm begegnenden Frau hineinlachte. Diese grüßte ihn etwas forsch, weil sie nicht wusste, ob das Lächeln nun ihr galt oder doch eher nicht. Sie ging weiter, drehte sich nicht um. Auch Neumeier drehte sich nicht um. 

Er ging jetzt etwas schneller, so als hätte er noch einen Zug oder einen Bus erreichen wollen. Aber er hatte genügend Zeit. Was heißt es überhaupt, etwas auf die Reihe zu kriegen?, fragte er sich. Ab wann konnte man das sagen? Wer entschied darüber? Und weiter Wie kann da ein langsamer Vorlauf gelingen, oder ein noch rechtzeitiges Abbiegen? Wie einer großherzig sein? Wie in der Provinz überleben? Wie die richtigen Fragen stellen und dann noch die richtigen Antworten darauf bekommen? Wie im richtigen Moment den Hut nehmen und gehen? Gehen ohne Aussicht auf Bleiben?

Neumeier sah die schon etwas ältere Frau mit der verwelkten Haut immer noch auf ihren Liebhaber warten. Sie blies einen Luftballon auf und ließ ihn steigen. Und der von ihr ersehnte Liebhaber wird am Abend dann ihre verwelkte Haut mit bunten Weihnachtsengeln bemalen und sie dann heftig lieben, so wie sie es sich immer gewünscht hat.

Helmut Schiestl

Geboren 1954 in Hall in Tirol. Bis 2019 beschäftigt an der Universität Innsbruck. Zuletzt am Innsbrucker Zeitungsarchiv des Instituts für Germanistik. Zahlreiche Publikationen und Veröffentlichungen in Tiroler Literaturzeitschriften und Anthologien sowie im ORF. Bücher: "Hirnkrebs", 1991 Tiroler Autorinnen- und Autoren-Kooperative. "Der Lotusblütenesser", 1992, Edition Himmelmeer. "Porträt des Schriftstellers als armer Wurstel", 2001 Edition Skarabäus.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. c. h. huber

    danke für diese typische helmut schiestl-story. skurril aber gut!

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