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Helmut Schiestl
Die Zeit
Short Story

„Ist das nun eine Uhr oder ist es keine Uhr?“, fragte sich der Dichter und verglich das im Licht schillernde Zifferblatt der im Lokal hängenden Uhr mit seiner Armbanduhr. Nur  – diese Uhr an der Wand des Lokals lief rückwärts, wie der Dichter nach wenigen Minuten feststellen konnte. Die Ziffern der Uhr glänzten silbern.

„Vielleicht ist dies die Uhr der Einsamen, die ihre verflossene Zeit zurückhaben wollen“, dachte der Dichter. „Eigentlich müsste diese Uhr zum Wahnsinn führen“, dachte er weiter. „Ja müsste sie mit ihrem Rückwärtslauf nicht selbst zur Zeit werden, die sie vorher nur angezeigt und angesammelt hat? Sie bestimmt die Zeit, und sie macht die Zeit“, dachte er weiter. Davor und dazwischen war der Raum der Zeit, der Raum des Lokals. Draußen war die Welt.

Die Frau, die dem Dichter gegenübersaß, war allein, trank ein Bier und hatte ihre Beine auf den vor ihr stehenden Stuhl gelegt, wahrscheinlich weil sie müde war. Dann kam eine Frau mit einem Hund, und setzte sich zu ihr. Der Hund bellte nicht und beschnupperte auch nichts und niemanden im Lokal.

Die Frau, die dem Dichter gegenübersaß und ein Bier trank, trug eine Handtasche mit der Aufschrift Love. Das gefiel dem Dichter. Und er hätte sie gerne angesprochen. Er traute sich aber nicht. Die Zeiger der Uhr im Lokal aber drehten sich weiter zurück, waren zwei ominöse Zeitpfeile, die im Kreis liefen und nie wo ankamen. Auch das gefiel dem Dichter. „Milliarden und Abermilliarden Planeten gibt es im Universum,“ dachte er, „und da soll es nicht auch einige davon geben, die Leben tragen? Besseres vielleicht als es hier auf diesem Planeten der Fall ist und wahrscheinlich jemals der Fall sein wird“, schrieb der Dichter in sein Notizheft. Und die Zeiger drehten sich munter zurück. Der Dichter notierte es. Sie waren der Barcode für das nicht gelebte Leben, schrieb er weiter.

Der alte Mann, den der Dichter erst vor kurzem noch im Krankenhaus als Zimmernachbarn gehabt hatte und der sehr nett zu ihm gewesen war, war gestorben, wie der Dichter jetzt in der im Lokal aufliegenden Zeitung lesen konnte. Als er den Mann, nachdem er wieder aus dem Krankenhaus entlassen worden war, angerufen hatte, um zu fragen, wie es ihm gehe, hatte sich eine ihm bekannte Frau gemeldet, mit der er nicht gerechnet hatte, hatte er doch nicht versehentlich deren Nummer gewählt, wie er am Display seines Handys feststellen konnte. Was dann weder er, der Dichter, noch sie, die nicht irrtümlich Angerufene verstanden und darauf ihr Gespräch beendet hatten. Weil ja keiner von ihnen mit dem Anruf des  anderen gerechnet hatte.

Wahrscheinlich war das so, weil der vom Dichter beabsichtigt Angerufene ein Psychoanalytiker war, der Gott mit Doktor Freud verbinden wollte, wie er dem Dichter noch im Krankenhaus versichert hatte. Aber Gott wird doch wohl eine andere Nummer haben als Doktor Freud, dachte der Dichter. Oder lag er da falsch?

„Es ist alles Literatur, was du siehst, wenn du in eine Kirche gehst!“, schrieb der Dichter dann seiner Geliebten in einer WhatsApp-Nachricht. „Literatur und nichts als Literatur …!“, setzte er noch pathetisch nach. „Die kitschigen Barockengel genauso wie der gotische Schmerzensmann, und auch der Jesus am Kreuz. Natürlich auch der Jesus am Kreuz!“, schrieb der Dichter. Die verführerische Madonna, wie alle die vielen Heiligen mit ihren aufwühlenden Lebens- und Leidensgeschichten. Es ist Literatur. So packend wie ein Roman. So suchend und deutend wie ein Gedicht. So hart an der Grenze des Erträglichen wie ein Drama!“

„Und die Liebe?“, simste ihm die Geliebte zurück. „Die Liebe ist überall mittendrin. Nur siehst du sie nicht! So wenig wie den glühenden Kern der Erde. Vielleicht ist sie die Wahrheit, die du niemals sehen darfst, wie im Bildnis des Jünglings zu Sais“, schrieb der Dichter weiter. Hielt sein noch halbvolles Bierglas gegen das Licht und prostete damit der ihm gegenübersitzenden sich mit ihrer Freundin lebhaft unterhaltenden Biertrinkerin zu, die ihm darauf zulächelte.

Die Uhr im Hintergrund spulte währenddessen die Zeit weiter zurück, wie eine Filmrolle. Wie kann ihr die Zeit da jemals davonrinnen, fragte sich der Dichter, wo sie doch so viel von ihr hat. Oder wird sie dabei doch einmal zu ihrem Omega-Punkt zurückkehren, der vielleicht im innersten Kern ihres Gehäuses liegt, fragte er sich. Er wusste keine Antwort.

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Helmut Schiestl

Geboren 1954 in Hall in Tirol. Bis 2019 beschäftigt an der Universität Innsbruck. Zuletzt am Innsbrucker Zeitungsarchiv des Instituts für Germanistik. Zahlreiche Publikationen und Veröffentlichungen in Tiroler Literaturzeitschriften und Anthologien sowie im ORF. Bücher: "Hirnkrebs", 1991 Tiroler Autorinnen- und Autoren-Kooperative. "Der Lotusblütenesser", 1992, Edition Himmelmeer. "Porträt des Schriftstellers als armer Wurstel", 2001 Edition Skarabäus.

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