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Peter Paul Wiplinger
DAS UNDENKBARE
Gedicht

jetzt bin ich wieder dort
wo ich vor fast siebzig jahren
schon einmal war als ich zornig
zu meinem längst verstorbenen
heidegger-philosophenbruder sagte
es geht jetzt doch nicht darum
nach diesem zweiten weltkrieg
nach all der nazibarbarei nach auschwitz
dresden hiroshima nach hitler stalin
nach 55 millionen oder wieviel toten
den menschen und die welt zu erklären
es geht doch darum sie zu verändern
daß so etwas nie mehr passiert
weil nie mehr passieren kann

ich weiß man kann und soll
die schrecklichen absurditäten
das undenkbare niemals vergleichen
aber wieder einmal ist das undenkbare
nicht nur denkbar sondern realität geworden

wieder einmal spielt ein einzelner mensch
auf dem machtapparatklavier die todesmelodie
und tausende ziehen folgsam in den krieg
und millionen sind jetzt auf der flucht
die welt ist nicht mehr wie sie vorher war
das undenkbare ist totalzerstörung tod

und wieder fragt man sich wofür wozu
was soll der ganze irrsinn was soll denn
dieser wahnsinnskampf und worum geht es
wofür lohnt sich das brutale bombardement
die ausradierung ganzer städte dieser terror
gegen arme menschen gegen frauen kinder
die in u-bahnschächten ohne alles hausen

und warum schießt ihr auf andere menschen
befehlsgemäß auf alles bis es nichts mehr gibt
außer ausgelöschtes leben maschinellen tod
ihr seid ab jetzt für immer gefolgschaftsmörder
nur weil schon wieder so ein wahnsinniger
den krieg befiehlt und ihr ihm treu-gehorsam folgt

und die anderen schreien daß sie kämpfen werden
bis zum letzten blutstropfen ein altbekannter slogan
und auch euch hat niemand von den betroffenen
in wirklichkeit dieses nationale heldentum erlaubt

und nachher werden wieder einmal die kinder
irgendwann und irgendwo friedenstauben basteln
und philosophen werden weiterhin so wie gewohnt
den menschen und die welt erklären und sagen
daß so etwas undenkbar ist obgleich es jetzt geschieht

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Peter Paul Wiplinger

Wiplinger wurde 1939 in Haslach in Oberösterreich geboren. In seiner Jugendzeit besuchte er unter anderem das Bischöfliche Gymnasium Petrinum. Danach studierte er Theaterwissenschaften, Germanistik und Philosophie. Seit 1960 lebt er als freier Schriftsteller und Fotograf in Wien. Als Mitglied des internationalen und des österreichischen P.E.N.-Clubs, der Österreichischen Liga für Menschenrechte, des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes und der IG Autorinnen Autoren erhielt er zahlreiche Preise und Auszeichnungen. 2006 wurde ihm der Titel Professor honoris causa verliehen. Bisher veröffentlichte er etwa 45 Bücher, die teils in mehr als 20 Sprachen übersetzt wurden. Zu seinen Werken zählen hauptsächlich politische Essays, Liebesgedichte und künstlerische Fotos.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Marcel Looser

    Lieber Alois
    Ich habe eben das neue Gedicht «DAS UNDENKBARE» von Peter Paul Wiplinger gelesen – ich bin tief beeindruckt.
    Der Mann weiss, wovon er schreibt, das Gedicht ist vielleicht auch die passenste Form, sich zu einer derart verstörenden Lage überhaupt zu äussern.
    Was unseren gemeinsamen Freund und Erzieher aus Stella-Zeiten Niklaus Brantschen betrifft, so ist es mir beim Lesen der Besprechung seines «Büchleins» durch Harald Walach ähnlich ergangen wie Ronald Weinberger. Ich hatte ein flaues Gefühl im Magen und habe diesen wissenschaftlich hoch dekorierten Mann «gegoogelt». So bin auch ich auf einen eher der Esoterik zugewandten «Globuli-Befürworter» gestossen – doch wie du immer sagst: audiatur et altera pars!, man muss ja nicht derselben Meinung ein.
    Brantschen war in unserem Internat einer der «menschlichen» und nicht abgehobenen Präfekten, dies ohne anbiederisch zu sein. Ich habe ihn sehr gemocht. In der Schweiz ist er eine bekannte Persönlichkeit, v.a. natürlich in «spirituellen» Kreisen.
    Wie du weisst, bin ich als alter Bäckers-Sohn eher auf dem Boden der praktischen Realität. Mit Konzepten wie dem «Nichts, das eigentlich Fülle ist» – «Nichts wollen, und das mit ganzem Herzen» – kann ich nicht viel anfangen. Dass das Glück erreichbar sein soll, indem man dem Leben entsagt, damit konnte ich mich nie anfreunden. Schon die alten Stoiker (z.B. Seneca ep.mor.9) meinten, für das wahre Glück (vita beata) sei es unerheblich, wenn einem z.B. seine Hand abgeschlagen würde, sein Kind stürbe, wenn man im Gefängnis sässe usw., dies sei nur für den «usus cotidanus» (das «normale, tägliche Leben») relevant. Ludwig Marcuse nannte das die «Philosophie der Hornhaut». Freude und Leid gehören nun mal zum Menschsein, wenn ich das nicht zulasse und bewusst erlebe, lebe ich nicht.

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