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Vanessa Musack
Kindheit im Hotel
Erinnerungen

Das Hotel „Windegg“ in Steinberg am Rofan existiert nicht mehr. Daher war ich lange der Überzeugung, dass damit auch meine Kindheitserinnerungen ausgelöscht seien. Meine eigenen Kinder waren es schließlich, die mir den Anstoß dazu gaben, diese Ansicht zu revidieren. Durch ihr Aufwachsen erinnerte ich mich plötzlich wieder an viele kleine und große Dinge, die das Leben im Hotel damals schillern und funkeln ließen und alles spannend, witzig und zauberhaft zugleich gemacht hatten.

Wir Hotelkinder… Schon früh war unser Leben von der Rücksichtnahme auf andere und von einem tugendhaften sich Hintenanstellen geprägt. Unsere Antennen waren stark auf das Außen konzentriert. Und immer lautete die Frage, „ob es denn gerade passt“?

Meinen Eltern war es sehr wichtig, dass wir immer höflich waren. Wir hatten bereits gegrüßt und bekamen trotzdem von unserer Mama zu hören, dass wir doch lauter grüßen sollten. Genauso war es beim Danke sagen. Lauter! Das Spielen wiederum musste leise sein. Genauso das Lachen und das Spaß haben. Wir, das waren mein sieben Jahre jüngerer Bruder Sevi, meine um 12 Jahre jüngere Schwester Lilli und ich.

Außerhalb des Hotels wollten wir nicht auffallen, weil wir ohnehin wussten, dass wir anders als der Rest aufwuchsen, mit verschiedenartigen und vielseitigen Einflüssen, die uns prägten. Wir wurden natürlich in dem Wissen erzogen, dass der wahre „Wert“ eines Menschen ohnehin ausschließlich in seinem Inneren zu finden ist.

Die für mich größten Geschenke meiner Kindheit waren zum einen die unglaublich große Freiheit, mit der ich aufwachsen konnte, und zum anderen die Menschen, die mich begleiteten. Das Hotel und alles, was dazu gehörte, kann man auch mit einem großen Abenteuerspielplatz vergleichen. Es gab so viel zu entdecken, und für Kinder ist es natürlich fabelhaft, den ganzen Tag lang herumzustreifen. Ich sehe mich noch heute durch die Hotelgänge schleichen, stets auf der Suche nach unverschlossenen Türen, hinter denen es immer etwas zu entdecken gab.

Und natürlich erinnere ich mich an die Menschen. Denn sie sind es ja im Endeffekt, die eine Begegnung zu etwas Besonderem werden lassen. Das familiäre Klima machte das Hotel Windegg einzigartig und ließ eine Atmosphäre der Geborgenheit entstehen. Viele der Mitarbeiter waren schon, so lange ich denken konnte, bei uns und manche Stammgäste kamen sogar mehrmals im Jahr und wurden von uns mit großer Ungeduld erwartet.

Ich möchte nur einige der für mich eindrücklichsten Charaktere im „Windegg“ vorstellen: Unser Chefkoch Willi Charles Poul zum Beispiel war für uns ein Familienmitglied. Mit seiner 2-Haubenküche verköstigte er uns exzellent und überdies hatte er ein derart großes Produktwissen, dass er einem wirklich aus fast nichts alles zaubern konnte.

Ich kann mich noch an den Tag erinnern, als er zum Vorstellungsgespräch ins Hotel kam. Es muss Sommer gewesen sein und ich war etwa sieben Jahre alt. Ich saß mit unserem Hund Jay auf der Terrasse und war sofort tief beeindruckt. Willi hatte etwas von einem lieben Teddybären, nur dass er großzügig mit Goldschmuck behängt war. Willi fiel auf!

Er konnte in alle möglichen Rollen schlüpfen, konnte alle Stücke spielen, angefangen beim Zauberer, über den Kartenspieler, bis zum Geschichtenerzähler und noch vieles mehr. Wenn man seinen multikulturellen Hintergrund kannte, waren seine Weltoffenheit und seine Vielfalt an Talenten und Prägungen leicht nachvollziehbar. Willi war als Sohn einer algerischen Mutter und eines amerikanischen Vaters gemeinsam mit seiner Schwester von einem bayrischen Ärzteehepaar adoptiert worden und hatte somit Einflüsse aus der ganzen Welt in die Wiege gelegt bekommen.

Meine bis heute beste Freundin Bernadette ist nur fünf Jahre älter als ich und arbeitete damals an der Reception und im Büro. Mit ihr konnte ich alles besprechen, was mich im Alter von zwölf bis fünfzehn Jahren beschäftigte. Dank Bernadette konnte ich das erste Mal so richtig das Nachtleben genießen. Ich erinnere mich auch an meine bis heute verrückteste Autofahrt. Zwischen Achenkirch und Steinberg gaben die Scheibenwischer ihres Schnackerl-Autos im wildesten Schneegestöber den Geist auf. So musste ich mich während der Fahrt beim Fenster hinauslehnen und die Scheiben frei wischen, damit Bernadette ungefähr sehen konnte, wohin sie fuhr. Die Straße war natürlich nicht geräumt, im Kassettenrekorder lief gerade „Informer“, das Original von „Snow“ und wir tuckerten mit gefühlten 10 Kilometern pro Stunde dahin.

An Onkel Siggi, den Reitlehrer im „Windegg“, erinnere ich mich genauso gerne, denn im Stall bei unseren Pferden verbrachte ich sehr unbeschwerte Sommer mit meinen Freundinnen. Ich ritt oft vier bis fünf Stunden lang durch die wildromantische Steinberger Natur. Wir plauderten unbeschwert und immer wieder maßen wir unser Können bei Wettrennen und machten unserem kindlichen Übermut Luft. Am Abend ging ich vom Stall übers Feld nach Hause und heute noch ist das Gefühl, das ich dabei hatte, ganz präsent in mir: Mein Körper war von der Sommerhitze aufgeheizt, doch auf meiner Haut konnte ich bereits die Frische der abendlichen Luft in den Bergen spüren. Ich fühlte mich zufrieden.

Unseren Klavierspieler Fritz, der übrigens aussah wie Udo Jürgens, höre ich jetzt noch enthusiastisch in die Tasten schlagen und singen: „Ich war noch niemals in New York, ich war noch niemals auf Hawaii, ging nie durch San Francisco in zerrissenen Jeans…“.

Zu Weihnachten war ich diejenige, die am Klavier vorspielen musste, ich meine, durfte… Das gehört zum Leben von Hotelkindern dazu. Natürlich bekamen wir Aufmerksamkeit und Jubel, aber wir mussten die Gäste-Meute schon als Kinder unterhalten können. Allerdings war das normal für mich und kein aufgesetztes oder kalkuliertes Verhalten. Genauso ging es meinem Bruder und meiner Schwester, an deren lustig-wilde Modenschauen ich mich heute noch erinnere. Wir kannten es nur so. Ohne Stillstand, immer alles in Bewegung. Gut, dass unsere Mama besonnen daran festhielt, dass wir ja nicht übermütig dabei wurden und schön am Boden blieben.

Unter den Gästen behalte ich einen bleibenden Eindruck von Kathi und Willy Brand aus Köln, die jeden Abend bis tief in die Nacht Poker spielten, natürlich mit Küchenchef Willi und anderen Gästen. Jedes Mal, wenn ich am Weg von der Küche ins Kinderspielzimmer vorbeihuschte, erhaschte ich ein paar Blicke der konzentrierten Spieler und konnte die elektrisierende Spannung, die in der Luft lag, regelrecht fühlen.

Besonders schöne Erinnerungen teile ich mit Annekathrin und Charly Hüskes. Ihr Sohn Philipp ist bis heute einer der besten Freunde meines Bruders. Wir haben die Drei oft bei ihnen zu Hause in Krefeld besucht. In Annekathrins Public Relations Agentur konnte ich auch mein erstes Praktikum absolvieren, noch während der Schulzeit,  was zu meiner Studienwahl und meinem späteren beruflichen Werdegang beitrug.

Und natürlich fallen mir zu einigen der Künstler, die im Hotel ausgestellt haben, schöne Geschichten ein. Ganz präsent für mich ist Hans Weigand, der sehr viel Zeit im „Windegg“ verbrachte und mit dem wir über die Jahre viele Erlebnisse teilten. Es war einfach seine Art, Geschichten zu erzählen, die ihn einzigartig machte.

Paul Leitner, Fotokünstler aus Wien und Sohn der Metzgerei Leitner aus Jenbach, brachte uns bei jedem seiner Besuche einen Sack Frankfurter Würstl mit, „weil die Kinder die so gerne mögen“.

Raymond Pettibon, ein Künstler aus Los Angeles, bot Sevi ständig Bonbons an, was meine Mama nervös machte, weil sie, ehrlich gesagt, nicht sicher war, ob diese nicht bewusstseinserweiternde Substanzen enthielten.

Kurt Weinzierl wiederum war von den Doggeln meines Opas so begeistert, dass mein Papa auch für ihn ein Paar besorgte. Von da an schlüpfte Kurti, kaum im „Windegg“ angekommen, für die gesamte Zeit seines Aufenthalts in seine Doggeln und schlurfte im selben Gleitschritt wie Opa durch die Hotelhalle. Er war es auch, der mit meinem Papa die „Poesie-Station Steinberg am Rofan“ ins Leben rief, und so durfte ich schon als Kind die Bekanntschaft mit einigen Größen der österreichischen Literaturszene machen. Sei es, dass sie selbst gelesen haben oder zu Gast waren, wie der charismatische Otto Grünmandl.

Wenn ich an die Dreharbeiten zu dem Niki List-Film „Helden in Tirol“ denke, kommt heute noch Begeisterung auf. Das Filmteam war über zwei Monate lang im Hotel untergebracht. Mein Bruder und ich durften als Statisten mitwirken und Sevi doubelte sogar den kindlichen Hauptdarsteller in einigen Szenen. Deshalb wurde er auch in einem eigenen, klimatisierten Van zu den verschiedenen Drehorten gebracht, während ich im Dirndl mit den anderen Statisten im einfachen Bus schwitzte. Ich war rasend eifersüchtig!

Wenn wir auf unseren „Einsatz“ warteten tat ich nichts lieber, als die Schauspieler stundenlang zu beobachten. Die Hauptdarsteller Christian Schmitt und Elke Winkens bewunderte ich heimlich. Werner Brix, Andreas Vitasek und Christian Pogats blödelten und scherzten mit uns, und alles schien ganz leicht und beschwingt zu funktionieren. Am Abend wurde ausgelassen gefeiert. Natürlich wollte ich damals auch Schauspielerin werden.

Weihnachten im Hotel behalte ich besonders in Erinnerung: Zuerst fand die gemeinsame Bescherung mit allen Hotelgästen in der Halle statt. Willi kam im Kostüm und mit weißem Rauschebart mit dem Pferdeschlitten als Weihnachtsmann und verteilte die Geschenke. Das Christkind wäre mit ihm als Darsteller dann doch nicht möglich gewesen. Etwas später fand die Familienbescherung in der Wohnung meiner Großeltern statt. Für meine Eltern muss das unheimlich stressig gewesen sein, weil nicht mehr Zeit dafür blieb als die Pause zwischen Hauptgang und Dessert. Möglich wurde das alles nur, weil zu Weihnachten immer meine Oma und mein Opa aus Niederösterreich angereist kamen und zum Gelingen des Weihnachtsfests beitrugen.

Ihnen ist es auch zu verdanken, dass wir Kinder überdurchschnittlich lange ans Christkind glaubten, obwohl das in einem Hotel wirklich nicht selbstverständlich ist. Oma und Opa wohnten immer im Zimmer 103, wenn sie uns besuchten. An den spezifischen Geruch des Zimmers, der die beiden umgab, kann ich mich noch heute erinnern. Außer meinen Großeltern väterlicherseits wohnten wir alle in Hotelzimmern: Meine Eltern, daneben wir Kinder und wiederum ein Zimmer weiter Onkel Franz, der Bruder meines Papas. Es mag entsetzlich klingen, kein eigenes Wohnzimmer zu haben, in das man sich zurückziehen kann, aber aufgrund der persönlichen und familiären Atmosphäre des Hotels war das nicht notwendig. So wuchsen wir zwar etwas öffentlicher auf als andere, dies aber in einem Rahmen, in dem wir Kinder uns sehr wohlfühlten.

Mir wird bewusst, wie wunderbar und lebhaft meine Kindheit im Hotel „Windegg“ gewesen ist, und so verschwinden all die „Nachteile“, die es auch gab, leise im Hintergrund. Auch wenn es das Hotel heute nicht mehr gibt, ein Umstand, der für uns alle sehr traurig ist, weil damit so viel Schönes verloren gegangen ist, so bleibt in meinem Inneren doch ein reicher Schatz an Erlebnissen und Erfahrungen. Und darum geht es doch im Leben, dass man sich seiner Schätze bewusst ist, ganz gleichgültig ob im Heute oder aus vergangenen Zeiten. Unsere Geschichte hinterlässt Spuren, prägt uns und macht uns einzigartig. Dafür dürfen wir dankbar sein.

Vanessa Musack

Vanessa Musack wurde am 20. Juli 1981 in Wien geboren und wuchs im Hotel Windegg in Steinberg am Rofan auf. Von 2000 bis 2005 studierte sie Betriebswirtschaftslehre in Innsbruck, Groningen (NL) und Montpellier (F). Ihre Diplomarbeit, „Universitäre Spin-offs als Quelle Nationaler Innovationen“, wurde mit dem Graf Chotek Hochschulpreis ausgezeichnet. Nach dem Studium absolvierte Vanessa Musack ein einjähriges Praktikum bei der Firma Salomon in Annecy (F) in der Abteilung für Internationale Kommunikation. Ab 2007 war sie für die Österreich Werbung in Brüssel als Pressesprecherin tätig. Im Zuge ihres einjährigen Auslandsaufenthaltes auf Madagaskar arbeitete sie für ein einheimisches Reiseunternehmen und schulte Mitarbeiter im Bereich Marketing. Nach ihrer Heimkehr 2011 betreute sie für die Tirol Werbung die Reisepresse auf den deutschsprachigen Märkten. Vanessa Musack hat vier Kinder und arbeitet für das Tiroler Kammerorchester InnStrumenti.

Dieser Beitrag hat 4 Kommentare

  1. Monika

    Hallo,
    Ein sehr berührender Text.
    Haben Sie mitbekommen, dass eine Sekte um die Gurus Sebastian Gronbach, Fedelma Gronbach und Ben Yathavan das Hotel zwischenzeitlich gekauft hat? Wissen Sie da Näheres darüber?

    1. Vanessa Musack

      Vielen Dank, Monika!
      Über die andere Geschichte weiß ich allerdings nichts.

  2. Thomas Hopfgartner

    Vanessa, toll beschrieben!
    Ich denke, du könntest noch viel weiteres aus deiner Kindheit im Hotel erzählen.
    Unsere Erinnerungen verändern sich zwar leicht mit der Zeit, aber speziell die vom Aufwachsen bleiben Anker zu jeder Zeit.

  3. Liebe Vanessa,
    deine Erinnerungen an das Windegg in Steinberg haben mich sehr berührt.
    Charly, Philipp und ich haben uns jedes Jahr sehr auf unseren Urlaub bei euch gefreut.
    Alles, was du beschreibst, haben wir miterlebt.
    Über die vielen Jahre sind wir Teil eurer Familie und umgekehrt geworden.
    Philipp und Sevi waren unzertrennlich und haben mit der ganzen Kinder-Bande, die immer zum Jahreswechsel das Hotel zum Abenteuer-Spielplatz erkoren hat, die wildesten Ideen verwirklicht.
    Frühling, Sommer und Herbst, die Natur, die Gäste und die herrlichen kulturellen Erlebnisse sind ein Teil unserer schönsten Erinnerungen.
    Windegg ist unvergessen und ich finde es schön, dass es für uns alle so präsent geblieben ist.
    Danke für die schönen Erinnerungen!
    Alles Liebe, Annekatrin

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