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H.W. Valerian
Gute Seiten
Notizen

Am System des Kommunismus gebe es ebenso wenig „gute Seiten“ wie am System des Nationalsozialismus, erklärt Hans Rauscher im Standard (Verknüpfung am Ende des Beitrags). Man könne links und demokratisch sein, aber dann sollte man nicht mehr Kommunist sein wollen.

Nun, dem zweiten Satz können wir gerne zustimmen, bis vielleicht auf dieses Detail: Wenn man demokratisch sein will, gleichgültig ob links, Mitte oder eher rechts, dann kann man nicht mehr Kommunist sein. Aber da handelt es sich möglicherweise um Wortklauberei, um intellektuelle Pedanterie.

Nicht so im Falle des ersten Satzes: Die Aussage, es gebe einfach keine „gute Seiten“ an Nationalsozialismus oder Kommunismus, ist viel zu kategorisch. So einfach ist das nicht – nicht in der chaotischen, vielfältigen und zumeist auch widersprüchlichen Wirklichkeit, sei sie nun gegenwärtig oder vergangen.

Ich hab’ schon wiederholt darauf hingewiesen, dass selbst der Nationalsozialismus „gute Seiten“ gehabt haben müsse, andernfalls hätte er nicht so viele Menschen für sich gewinnen können. Erzählungen aus den Tagen vor Ausbruch des Krieges bestätigen dies. Ich erinnere mich an eine, die ich gelesen habe: Ein junges Mädchen, beflügelt von der Umbruchstimmung nach dem Anschluss, bewarb sich kurz entschlossen um eine Stelle im damaligen Gauhaus (heute: Landhaus). Sie wurde angestellt, ganz entgegen ihren Erwartungen, und fand sich in einem freundlichen, anregenden Arbeitsklima wieder. Eine Folge des gesellschaftlichen Umbruchs, welche der Nationalsozialismus mit sich brachte, und von dem viele profitierten – vorwiegend allerdings solche, die weder schriftlich noch mündlich an die Öffentlichkeit traten.

Die deprimierenden Schilderungen der Herrschafts- und Armutsverhältnisse im Bezirk Tamsweg vor dem Krieg enden in dem Moment, als die Nazis die Macht übernahmen: Da konnten die geschundenen Knechte und Mägde nämlich in die Stadt gehen und sich in Fabriken verdingen. Mit der Tyrannei der unheiligen Allianz von Großbauern und Pfarrern war es schlagartig vorbei. Und diese Umwälzung erwies sich als permanent, auch nach dem Kriege.


Und im Kommunismus?

Ehe ich lange herumdoziere, sei eine Episode berichtet, die ich vor nicht allzu langer Zeit selbst mitbekommen habe. Da hatten wir nämlich einen reading circle auf Englisch mit wahrlich internationaler Beteiligung. Einmal kam ich mit einer jungen Frau zu reden, Ärztin an der Innsbrucker Universitätsklinik. Wie sich herausstellte, stammte sie aus Taschkent, der Hauptstadt von Usbekistan, heute ein unabhängiger Staat, einst eine der Sowjetrepubliken.

Sie nahm Anstoß an einer Bemerkung, die ich in meinem feurigen Anti-Kommunismus von mir gegeben hatte. Es sei nicht alles schlecht gewesen, protestierte sie. So erinnere sie sich mit großer Dankbarkeit an ihre Lehrer. Die hätten mit derartigem Enthusiasmus unterrichtet, dass sich selbiger auf die Schüler übertrug. Mittels Geographieunterricht sei ihr die ganze Welt offen gestanden, beteuerte sie. Ihre Jugend in Taschkent habe sie insgesamt in bester Erinnerung. Positive Erinnerungen ans sowjetische Schulwesen habe ich so oft zu hören bekommen, dass man wohl davon ausgehen kann, da sei etwas Wahres dran.

Jedenfalls entschuldigte ich mich bei der jungen Frau wegen der Stereotype, die ich in meiner Ignoranz von mir gegeben hatte. Gleiches würde vielleicht Herrn Rauscher gut anstehen. Zu sagen, irgendetwas könne keine „guten Seiten“ haben, ist Unsinn. Natürlich ändert das nichts an den gigantischen Verbrechen des Nationalsozialismus, noch an den viel gigantischeren des Kommunismus (quantitativ gesprochen). Wegen einiger „guten Seiten“ wird man sich Kommunismus oder Nationalsozialismus schwerlich zurück wünschen. Ebenso wenig geht es um ein Schwarz-Weiß-Urteil. Beides kann gleichzeitig wahr sein.

Im Übrigen hat die junge Ärztin nichts an meinem tief sitzenden Anti-Kommunismus geändert,  von meiner Abscheu vor dem Nationalsozialismus erst gar nicht zu reden. Ich hab’ seither bloß versucht, ein bisschen umsichtiger zu argumentieren – und ein bisschen nachdenklicher!

Hans Rauscher, „Ein paar Fakten zum Kommunismus“, der Standard.at (2. Oktober 2021) [heruntergeladen 3. Oktober 2021].
Horst Schreiber (Hg.), 1938: Der Anschluss in den Bezirken Tirols (Innsbruck: StudienVerlag, 2018).
Peter Klammer (Hg.), Auf fremden Höfen: Anstiftkinder, Dienstboten und Einleger im Gebirge (Wien: Böhlau, 2007).

H.W. Valerian

H.W. Valerian (Pseudonym), geboren um 1950, lebt und arbeitet in und um Innsbruck. Studium der Anglistik/Amerikanistik und Germanistik. 35 Jahre Einsatz an der Kreidefront. Freischaffender Schriftsteller und Journalist, unter anderem für "Die Gegenwart". Mehrere Bücher. H.W. Valerian ist im August 2022 verstorben.

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