H.W. Valerian
Ein Moment der Aufrichtigkeit
Notizen
Wenn eine Krise eintritt, ereignet sich oft das, was man als Moment der Aufrichtigkeit bezeichnen könnte. Im ersten Schock sehen die Menschen ganz klar, und sie sagen das, was sie sehen, ganz unverblümt. Auf Englisch könnte man von einem window of clairvoyance sprechen. Ich hab’ dieses Phänomen schon öfter beobachtet, an mir selbst ebenso wie an anderen, außerdem bin ich im Zuge meiner Lektüre darauf gestoßen.
Ein solcher Moment trat kürzlich hier in Österreich ein. Da sah es für einen Augenblick aus, als würden wir vor einer veritablen Krise stehen. Man erinnert sich: Die Grünen wollten nicht mehr unter Sebastian Kurz in der Bundesregierung sitzen – aus guten Gründen, wie man ihnen zugestehen muss, denn irgendwann musste ihre Geduld und ihre Nachsicht einfach und anständigerweise zu Ende sein.
Doch Sebastian Kurz stellte öffentlich ganz eindeutig fest, er gedenke keineswegs zurückzutreten. Die Regierungsmitglieder seiner Bewegung, Türkis, erklärten ebenso eindeutig, sie würden ohne Kurz nicht in der Regierung verbleiben. Und auch die ÖVP schien zu diesem Zeitpunkt noch geschlossen ihrem Kanzler die Mauer zu machen.
Sofern die Grünen nicht über ihre eigenen Füße stolperten, drohte folglich die Koalition zu platzen. Schön. Aber was dann?
Aufgrund der Mandatsverteilung im Nationalrat braucht es für eine regierungsfähige Mehrheit derzeit entweder die Stimmen der ÖVP – oder die der FPÖ. Da führt kein Weg daran vorbei. Zog man die Unvereinbarkeit von SPÖ und FPÖ in Betracht, so standen wir vor einer Situation, in welcher keine alternative Regierungsbildung möglich schien, denn ÖVP mit FPÖ, Kurz mit Kickel, das galt als ebenso unvereinbar.
Eine solche Situation ist für eine Demokratie lebensgefährlich. Zumindest hatte ich diese Lehre aus meiner historischen und politischen Lektüre mitgenommen. Für einen Moment – window of clairvoyance – hatte ich echt Angst.
Dann kam die Meldung: Pamela Rendi-Wagner spricht von einer Vierer-Koalition aus SPÖ, FPÖ, Grünen und NEOS. Das erschien mir als wahrhaft historischer, denkwürdiger Ansatz.
Denn erstens schien sie sich der Gefahr bewusst zu sein, die sich da abzeichnete: Konfrontation, Unerbittlichkeit – das kann in so einer Lage die Demokratie umbringen. Weswegen sie zweitens bereit war, über den eigenen Schatten zu springen bzw. ihre Partei über selbigen springen zu lassen, um eine Lähmung des Parlaments zu vermeiden.
Wie so eine Vierer-Koalition funktioniert hätte, das liegt jenseits unser aller Phantasie. Aber darum ging es nicht. Es handelte sich um einen Notfall!
Zumindest hab’ ich das an jenem Abend so miterlebt. Dann gab Bundeskanzler Kurz seinen Rücktritt bekannt – pardon: sein Beiseite-Treten –, womit das Patt aufgelöst war. Er steckte dafür staatsmännisches Lob ein, obwohl er eigentlich die Krise selbst verschuldet hatte (und ich bringe das Wort Schuld absichtlich ins Spiel), und obwohl er selbst keinen Willen hatte erkennen lassen, staatsmännisch zu handeln. Ein typischer Fall von Zurückgetreten-Werden.
Pamela Rendi-Wagner bekam hingegen kein Lob, keinen Dank für ihre Umsicht. Irgendwo hat ihr ein Journalist sogar unterstellt, sie habe nur aus Ehrgeiz gehandelt, um unbedingt Kanzlerin zu werden.
Ausgerechnet sie! Im Normalbetrieb wird sie dafür kritisiert, dass sie zu wenig Ehrgeiz habe, zu wenig Killerinstinkt für eine Spitzenpolitikerin – es fehle der „Zug zum Tor“, wie’s einmal hieß. Aber nun, da ihr selbiger unterstellt wird, ist es auch nicht recht!
Tschuldigung, meine werten Damen und Herren Journalistinnen oder Journalisten, aber depperter geht’s wohl wirklich nicht mehr, oder?
Der Moment der Aufrichtigkeit ist eben dies: ein Moment. Sehr rasch kehrt wieder Alltag ein, mit seinem Wenn und Aber, seinen Diskussionen, Einwänden, Vorbehalten, mit seinen taktisch gefärbten Aussagen, seinen strategisch vorsichtig formulierten Statements.
Bis zur nächsten Krise. Aber die wird man sich natürlich nicht herbei wünschen!
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