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Elias Schneitter
Ein gutes Pferd zieht noch einmal.
Fortsetzungsroman
Folge 17
Im Internat

Zwei Menschen auf der Suche nach etwas Glück. Eine Geschichte, getragen von Elias Schneitters – bei aller kritischen Distanz – warmherziger Empathie für die sogenannten einfachen Leute, denen auch noch unter den schwierigsten Umständen die Möglichkeit eines zuletzt guten Lebens erhalten bleibt.

Hintergrund der Erzählung ist die Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs nach dem Krieg. Die Ehe der beiden Hauptpersonen steht unter keinem guten Stern. Trotzdem stellen sie sich den Fährnissen des Schicksals, getrieben von der Sehnsucht nach einem halbwegs menschenwürdigen Dasein, nach etwas Wohlstand, vor allem aber nach ein wenig Freundschaft und Liebe.


17. Kapitel

Die Übersiedlung ins Internat brachte für mich große Umstellungen mit sich. An so einen geregelten Tagesablauf wie dort war ich in meinem bisherigen Leben nicht gewohnt und vor allem bedeutete es die Trennung von meinen Freunden.

Im Internat hieß es um sechs in der Früh Tagwache, dann Waschraum und Körperpflege, wobei ich hier zum ersten Mal regelmäßig meine Zahnpflege in Angriff nahm, denn während meiner ganzen Kindheit bei Großmutter kannte ich weder Zahnbürste noch Zahncreme.

Nach dem Waschraum ging es – wir waren ja in einem Kloster – zum Morgengebet, danach wieder zurück zum Studium. Die Zimmer waren sehr spartanisch eingerichtet, vier Stahlrohrbetten, vier Kleiderkästen, ein größerer Tisch, vier Stühle. Das war die Unterbringung. 

Dann kamen das Frühstück, die Schule, nach der Schule Mittagessen, dann Freizeit mit der Möglichkeit zu Spaziergängen, die wir auch dafür nutzten, uns im Lebensmittelgeschäft Wurstsemmeln oder Gabelbissen zu besorgen, denn die klösterlichen Mahlzeiten strotzten nicht gerade vor Üppigkeit für Heranwachsende. 

Am Nachmittag dann wieder Studium bis zum Abendessen mit einer anschließenden Freistunde, um am Abend noch eine weitere Stunde beim Studium zu verbringen. Dann wieder Waschraum und um zehn Dunkelheit. 

Die Studierzeiten waren in den Zimmern bei offenen Türen und unter Beaufsichtigung eines auf und ab gehenden Mönches, der in der Bibel las. Natürlich Schweigestudium, natürlich kein Radio oder andere Abwechslungen. 

Zweimal in der Woche gab es Fernsehabende, am Montag Sport am Montag und am Donnerstag einen Abendkrimi. Wenn es zu disziplinären Schwierigkeiten kam, war die erste Maßnahme immer Fernsehverbot. An den Wochenenden hatten wir frei; von Samstagmittag bis Sonntagabend. 

Ab acht Uhr abends mussten wir wieder im Internat sein und der Besuch eines Tanzlokals war grundsätzlich verboten. Alle vier bis fünf Wochen durften wir – abgesehen von den größeren schulfreien Zeiten wie Allerheiligen, Weihnachten, Ostern, Pfingsten – nach Hause fahren. 

Durch diesen Zyklus verlor ich fast ganz den Kontakt zu meinen Freunden daheim. Mit dem Fußball im Heimatverein war es vorbei, diese Karriere war zu Ende. Schade, dass du nicht mehr dabei bist, meinten meine Freunde, die inzwischen schon in der Kampfmannschaft ihre Plätze hatten, in ein, zwei Jahren hättest du sicher einen Stammplatz in der Ersten gehabt. 

So verliefen sich auch die bisherigen Freundschaften immer mehr. Natürlich spielte ich im Internat weiter Fußball und zufälligerweise waren in unserer Klasse viele gute Kicker. Vor allem im zweiten Jahr, nach dem Aufbaujahr. Fast jede freie Minute kickten wir am Sportplatz oder in der Turnhalle und wir waren so gut, dass uns auch die Professoren wöchentlich einmal am Abend für die Matches in die Turnhalle holten. 

Gegen uns hatten sie keine Chance, sodass wir immer gemischt spielten, und unsere Qualitäten reichten sogar dafür, dass unsere Mannschaft bei einem tirolweiten Turnier den Siegerpokal heimholte. Aber bald darauf sollte für längere Zeit Schluss mit dem Fußball sein.

In vielen Dingen gehörte ich immer zu den Spätzündern, unter anderem auch beim Wachstum. Denn plötzlich, erst mit sechzehn Jahren, schoss ich gewaltig in die Höhe. In der Volks- und Hauptschule war nur der Neurauter Johann immer kleiner als ich. Er nahm bei der Körpergröße stets den letzten Platz ein und darum hatte er auch den Spitznamen Fliege. Jetzt plötzlich schoss ich innerhalb kürzester Zeit auf über eins achtzig in die Höhe. Mein lieber Schwan, jetzt hast du aber einen Schub gemacht, hieß es immer wieder. 

Das schnelle Wachstum wirkte sich natürlich auch auf mein Befinden aus, in Form von Schwindelanfällen und Ähnlichem. Bereits früher hatte ich hin und wieder solche Anfälle, bei denen das Herz förmlich umsprang und der Puls von einer zur nächsten Sekunde in die Höhe jagte. Paroxysmale Tachykardie. Dieser Zustand stand mit heftigen Angstzuständen in Verbindung.

Einmal beim Federballspielen mit meinem Cousin wurde mir schlecht, Angst überkam mich und ich ging ins Haus zu Oma. Mein Cousin wollte wissen, was los sei. Mir ist schlecht, sonst wusste ich nichts zu sagen. Mein ganzer Körper war nur noch Unruhe und Nervosität. Der Zustand besserte sich über Stunden nicht. 

Dann kam Dr. Gerscha und fühlte meinen Puls, er gab mir Ratschläge: kaltes Wasser trinken, mit den Fingern kurz auf die Halsschlagadern drücken. Mit diesen Ratschlägen ließ er mich zurück. Er meinte, wenn es in einigen Stunden nicht wieder in Ordnung sei, dann sollten wir in die Klinik fahren. 

So wie dieser Anfall ganz überraschend gekommen war, so hörte er auch mit einem Schlag auf. Von einer Sekunde zur nächsten. Danach überfiel mich eine große Müdigkeit, verbunden mit einem großen Glücksgefühl. 

Während des Wachstums hatte ich solche Anfälle immer wieder. Meist dauerten sie aber nur kurze Zeit, eine halbe Stunde oder etwas mehr. Dann war es wieder vorbei. Aber die Angst davor verunsicherte mich. Bei jeder kleinen Aufregung schlug mein Herz heftig, bis hinauf in die Ohren.

Einmal erwischte es mich im Turnunterricht, während eines Volleyballspieles. Ich sprang auf, um einen Ball zu blocken, riss die Arme in die Höhe und in diesem Moment merkte ich wieder dieses unangenehme Gefühl in der Magengrube. Ich meldete mich ab und ging aufs Zimmer. 

Nervös ging ich im Zimmer auf und ab. In so einem Zustand konnte ich mich nicht hinlegen, zu groß war die Unruhe. Der Anfall hörte nicht auf, es wurde Mittag, es wurde Nachmittag. Ich telefonierte mit meiner Mutter und als es am Abend immer noch nicht besser war, kam meine Mutter mit ihrem Chef ins Internat. Als sie ins Zimmer traten, war der Anfall wieder von einem Moment auf den anderen beendet. 

Es war, als ob das Herz umschalten würde. Meine Erleichterung war grenzenlos und ich fiel meiner Mutter um den Hals. In den folgenden Monaten traten immer wieder ganz unvermittelt diese Zustände auf, sodass ich immer noch verunsicherter wurde. Auch verlor ich das Interesse an der Schule, obwohl ich keine Probleme hatte, trotz jeder Menge von Fehlstunden. 

Inzwischen fuhr ich immer häufiger nach solchen Vorfällen nach Hause und blieb jedes Mal einige Tage dort. Mein gesundheitlicher Zustand belastete meine Mutter, Vater sah das eher gelassen und meinte stets, das hänge mit dem Wachstum zusammen und werde sich früher oder später von selbst regeln. 

Dr. Ravelli vermittelte mich an einen befreundeten Internisten an der Klinik, der mich untersuchte. Er stellte fest, dass die Ursache für meine Zustände im vegetativen Bereich liegen würde. Das Herz sei völlig gesund. Das Problem liege beim fehlerhaften Zusammenspiel zwischen Sympathicus und Parasympathicus und komme aufgrund von Fehlzündungen zustande. Darum rumpelte es immer wieder durch diese Extrasystolen, wie er mir erklärte. 

Er verschrieb mir Medikamente, die ich regelmäßig nehmen musste, und diese waren eine Hilfe, sodass sich diese Tachykardien nur noch ganz selten einstellten. Auch riet er mir, dass ich weiterhin regelmäßig Sport betreiben sollte, und dass ich mich mehr auf Ausdauersportarten verlegen sollte. Fußball oder Tennis wären wegen der ruckartigen Bewegungen nicht ideal für mich. Es gebe genug Menschen, die mit solchen Attacken leben müssten, aber für einen jungen Körper seien sie nicht allzu bedrohlich. Auch denke er, dass sich diese Anfälle mit der Zeit auswachsen würden. Trotzdem dürfe man sie nicht bagatellisieren. 

In der Schule und im Internat galt ich jetzt als herzkrank, was auch gewisse Vorteile bringen sollte. Meine Mutter war verunsichert, denn indirekt wurden ihr auch Vorwürfe dahingehend gemacht, dass ich durch die Schule überfordert wäre, dass der Ehrgeiz meiner Mutter mit ausschlaggebend für meine Krankheit sei. Das belastete sie, und auch wenn sie keine Vorstellung hatte, was ich weiter machen sollte, stellte sie mir zumindest halbherzig die Frage, ob ich die Schule weiter besuchen wollte. 

Das war damals für mich kein Thema. Ich hätte ja auch nicht gewusst, was ich hätte tun sollen. Außerdem passte mir das geregelte Leben in der Klosterschule recht gut. 

Aber trotzdem musste in unserer Familie irgendwie ein Hund begraben sein, denn ungefähr zur gleichen Zeit hatte auch meine Schwester mit Herzflattern ihre Probleme. Das war zwar keine Beruhigung für mich. Aber mit der Zeit und durch die Einnahme der Medikamente stabilisierte sich mein Zustand, sodass ich kaum noch Probleme mit dieser Art Wachstumsstörung hatte.

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Elias Schneitter

Elias Schneitter, geb. 1953, lebt in Wien und Tirol. Zahlreiche Publikationen. Zuletzt der Erzählband „Fußball ist auch bei Regen schön“ (Edition BAES), der Roman „Ein gutes Pferd zieht noch einmal“ (Kyrene Verlag) und der Gedichtband „Wie geht’s“ in der Stadtlichter Presse, Hamburg. Daneben Tätigkeit als Kleinverleger der edition baes (www.edition-baes.com), wo ein Schwerpunkt auf die Veröffentlichung von Literatur aus der US-amerikanischen Subkultur gelegt wird. Schneitter ist Mitbegründer und Kurator beim internationalen Tiroler Literaturfestival „sprachsalz“ (www.sprachsalz.com) in Hall.

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