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Elias Schneitter
Ein gutes Pferd zieht noch einmal.
Fortsetzungsroman
Folge 10
Der Vater erkrankt.

Zwei Menschen auf der Suche nach etwas Glück. Eine Geschichte, getragen von Elias Schneitters – bei aller kritischen Distanz – warmherziger Empathie für die sogenannten einfachen Leute, denen auch noch unter den schwierigsten Umständen die Möglichkeit eines zuletzt guten Lebens erhalten bleibt.

Hintergrund der Erzählung ist die Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs nach dem Krieg. Die Ehe der beiden Hauptpersonen steht unter keinem guten Stern. Trotzdem stellen sie sich den Fährnissen des Schicksals, getrieben von der Sehnsucht nach einem halbwegs menschenwürdigen Dasein, nach etwas Wohlstand, vor allem aber nach ein wenig Freundschaft und Liebe.


10. Kapitel

Obwohl der Vater noch ein junger Mensch war, hatte sein bisheriges Leben gesundheitliche Spuren hinterlassen. Die schwere Kopfverletzung als Kind, die Kriegsjahre in Russland mit drei Kriegsverwundungen, dann der Konkurs und die letzten Jahre, die nur aus harter Arbeit bestanden. Dieser Raubbau ging nicht spurlos an ihm vorüber. Immer häufiger kämpfte er gegen eine große Müdigkeit an und erlitt Schwächeanfälle.

Mein Vater gehörte zu jenen Menschen, die erst dann einen Arzt aufsuchen, wenn es unausweichlich ist. Üblicherweise meinte er, es geht schon und das wird schon wieder und was von selber gekommen ist, wird auch wieder von selbst verschwinden. Er lebte wie viele Männer nach der Devise, solange man nicht zum Arzt geht, ist man nicht krank.

Aber sein Zustand verschlechtere sich so dramatisch, dass ihm schließlich nichts  übrigblieb, als Dr. Gerscha aufzusuchen. Dr. Gerscha war unser Hausarzt, der nach dem Krieg mit einem einjährigen Berufsverbot belegt wurde, weil er den Wahnideen der Nazis – als Idealist, wie meine Mutter immer betonte – aufgesessen war. Während des Berufsverbotes arbeitete er in einem Sägewerk, wo er Bretter zu stapeln hatte.

Bei uns im Dorf wurde er sehr geschätzt, weil er dem Bild eines Arztes auf dem Land entsprach. Er war nicht nur während der Ordinationszeiten zu erreichen, sondern fast rund um die Uhr. Er hatte eine kleine Ordination in einem halb verfallenen Haus in der Kirchstraße. Das Wartezimmer war ein dunkler, finsterer Hausgang mit einem alten Holzdielenboden.

Vonseiten der Familie meiner Mutter bestand zur Frau des Arztes ein besonderes Naheverhältnis. Diese war viele Jahre lang die Dorfhebamme und war auch bei der Geburt meiner Mutter dabei gewesen. Frau Dr. Gerscha war mit meiner Großmutter befreundet, die sie auch immer wieder mit kleineren Spenden unterstützte. Meine Mutter verdankte Frau Dr. Gerscha – auf dem Land wurde der Doktortitel automatisch auf die Frau übertragen – auch ihren Vornamen Brunhilde, denn diesen hatte sie vorgeschlagen und er wurde meiner Mutter dann auch gegeben.

Dr. Gerscha horchte meinen Vater mit dem Stethoskop ab und seine Gesichtszüge verfinsterten sich. Er überwies ihn auf der Stelle zum Lungenfacharzt Dr. Zech in Innsbruck, der eine TBC-Erkrankung feststellte.

Obwohl es damals schon Penicillin gab, hatte die Erkrankung ihren Schrecken noch nicht völlig verloren. Meine Eltern waren am Boden zerstört. Auch wir Kinder wurden von Mutter eingeweiht. Sie meinte, dass Vater schwer erkrankt sei, und da diese Krankheit ansteckend sei, sollten wir vorsichtig sein. Das hieß, nicht Vaters Besteck benützen oder seine Tasse. Mit anderen Worten: ihm nicht zu nahe kommen.

Natürlich sollten wir ihn das nicht merken lassen, weil er das als Zurückweisung empfunden und es ihn tief verletzt hätte. Wir kapierten das Ganze natürlich nicht so richtig, aber befolgten diese Instruktionen, was weiter nicht allzu schwierig war, da wir ohnehin die meiste Zeit bei unseren Großmüttern zubrachten und unsere Eltern kaum sahen.

In Tirol gab es damals zwei Lungenheilanstalten: eine in Natters, die andere in Hochzirl. So gesehen war Hochzirl für uns ein Glücksfall. Ursprünglich war Hochzirl als Erholungsheim für K.u.k.-Offiziere gebaut worden, ehe es nach dem Ersten Weltkrieg zu einer Lungenheilstätte umfunktioniert wurde.

Der Aufenthalt für Vater war dort für sechs bis acht Monate geplant. Nach der Einweisung schrieb er einen herzzerreißenden Brief an die Mutter, der geprägt war von der Sorge um das Weiterkommen seiner Familie. Meine Mutter begleitete ihn am ersten Tag in die Lungenheilanstalt, und der Vater schrieb, dass er ihr, nachdem sie ihn verlassen hatte, am liebsten nachgelaufen wäre. Auch schrieb er, dass ihn die Ausgrenzung, die er durch die Erkrankung von den Menschen erfahren habe, sehr belasten würde, aber am Schluss des Briefes drang wieder sein starker Wille durch und er schrieb, dass er den Tag herbeisehne, an dem er wieder gesund sein und wieder für seine Familie da sein würde. Denn ein gutes Pferde ziehe immer noch einmal.

Gleich nach seiner Aufnahme in die Lungenheilstätte hatte ein Bekannter des Vaters, ein Maurer, im Parterre unseres halbfertigen Hauses einen Raum und den Hausgang verputzt und auch den Kamin aufgemauert. Der Bruder meiner Mutter verlegte einen Plastikboden und besorgte eine Couch. Und so übersiedelten meine Schwester und meine Mutter unter notdürftigsten Bedingungen in diesen Raum des Rohbaues. Das bisschen Geschirr hatten sie in einem Wäschekorb verstaut, ein alter Holzherd, der Tisch, Stühle, das war die gesamte Einrichtung. Ich blieb weiterhin bei meiner Großmutter und war nur hin und wieder zu Hause auf Besuch, wo ohnehin kein Platz für mich gewesen wäre.

Nachdem mein Vater nach sechs Monaten aus der Lungenheilanstalt entlassen worden und nach Hause zurückgekommen war, dauerte es einige Zeit, bis er wieder einigermaßen auf dem Damm war. Er war körperlich schwach, es fehlte die Energie und er war vorübergehend zum Nichtstun gezwungen. Es ist schlimm, meinte er, wenn man die viele Arbeit sieht, diese aber nicht erledigen kann.

Aufgrund seiner TBC-Erkrankung wurde dem Vater vorübergehend eine Invaliditätspension zuerkannt. Und ganz langsam, nach mehreren Wochen, spürte er, wie seine Kräfte zurückkehrten, und es dauerte dann nicht mehr allzu lange, bis er zunächst wieder mit kleineren Arbeiten begann  und mit der Zeit immer größere in Angriff nahm. Natürlich wäre mehr Schonung notwendig gewesen, aber darauf nahm er wenig Rücksicht.

Anfangs legte er längere Pausen ein und zu Mittag ruhte er sich auf dem Diwan zumindest eine Stunde lang aus. Täglich trank er ein Glas Milch, in die er zwei rohe Eier einrührte, weil er überzeugt war, dass mit diesem Getränk die alten Kräfte wieder zurückkehren würden. Dieses Rezept hatte er von einem anderen Patienten in der Lungenheilstätte bekommen und davon war mein Vater überzeugt, ebenso wie von der Brennsuppe, die er sich täglich abends zubereitete und der er große Heilkraft zuschrieb. Noch heute sehe ich ihn vor mir, wie er am Herd steht, leicht nach vorn gebeugt, das Mehl in der heißen Butter verrührt, bis es goldgelb ist, und dann das Wasser dazugibt.

Sehr bald übernahm er auch wieder Schwarzarbeiten für andere Leute. Er war besonders als Bautischler gefragt und damals gab es Aufträge ohne Ende, sodass er zahllose Gartenmauern, Betondecken und Stiegenaufgänge einschalte, ebenso wie er für Dachstühle die Holzzettel zusammenstellte. Auch übernahm er Aufträge für Möbelstücke, Türen, Tische, Stühle.

Diese Schwarzarbeiten waren für ihn nicht einfach zu bewerkstelligen, da er nicht die dafür notwendige maschinelle Ausstattung hatte. Darum musste er mit einem Tischler aus der Umgebung in Kontakt treten, der ihm gegen entsprechende Bezahlung seine Maschinen überließ. Das war natürlich mit gewissen Unannehmlichkeiten verbunden, wenn er in einer fremden Werkstätte seine Schwarzarbeiten erledigte, auch wenn er seinen Obulus dazu beigetragen hatte. Deswegen wurde im Dorf über ihn gesprochen, teilweise auch mit gehörigem Missmut, denn einerseits bezog er eine Invalidenpension, andererseits erledigte er Pfuscharbeiten, die er steuerfrei verrechnete. Das wurde – aus verständlichen Gründen – mit kritischen Augen betrachtet.

Auch wunderte sich so mancher über die Arglosigkeit, wie er mit seiner Gesundheit umsprang, während sich einige überhaupt die Frage stellten, warum ihm nicht die Rente entzogen wurde. Trotzdem kam es nie zu einer Anzeige bei den Behörden, auch zu keiner anonymen. Das hing bestimmt damit zusammen, dass mein Vater bei den meisten wegen seiner Uneigennützigkeit bekannt war. Er war stets bereit, anderen zu helfen, wenn sie Hilfe benötigten.

So hatte er das Amt des Obmannes des sozialistischen Pensionistenverbandes inne und als solcher – er war damals um die vierzig – organisierte er für die einfachen Leute Ausflugsfahrten und Vereinsnachmittage und Muttertags- und Weihnachtsfeiern und er kümmerte sich auch darum, dass die Mitglieder, einfache ehemalige Arbeiter und kleine Angestellte, einen Hilflosen- oder einen Heizkostenzuschuss für den Winter zugesprochen bekamen. Und regelmäßig fuhr er in die Stadt, wo er bei Behörden vorsprach und mit den politisch Verantwortlichen Kontakt aufnahm, um für den einen oder den anderen kleinere Zuwendungen zu bekommen. Das sprach sich auch im Dorf herum.

So kam eines Tages, erinnere ich mich, der Schwarzn Franzl, ein älterer Mann mit Hut, zu uns nach Hause. Er war sein Lebtag lang ein einfacher Hilfsarbeiter in einem Steinbruch gewesen, er betrieb nebenbei eine kleine Landwirtschaft mit zwei, drei Stück Vieh und entschuldigte sich bei meinem Vater, weil auf einer seiner Wiesen, die neben der Bundesstraße lag, von der ÖVP, angeblich ohne sein Wissen, eine Werbetafel für die bevorstehende Nationalratswahl aufgestellt worden war.

Er habe nichts von dieser Tafel gewusst und er schäme sich dafür vor meinem Vater, der dafür gesorgt hatte, dass er mehrmals soziale Unterstützungen erhielt.

Einmal kam bei einem Arbeitsunfall ein guter Freund meines Vaters, der mit ihm im Krieg gewesen war, ums Leben. Dieser war verheiratet, hatte drei kleine Kinder und die Witwe stand alleine mit ihnen und einem halbfertigen Haus und vielen Schulden da. Für die Witwe stellte sich die Frage, ob sie alles verkaufen müsse, denn alleine hätte sie eine Fertigstellung des Hauses nie schaffen können. Auch hier sprang mein Vater gemeinsam mit vielen anderen in die Bresche. Das Haus wurde mit Gratisschichten von Bekannten und Materialspenden von Unternehmern fertiggestellt, sodass die Familie ein Dach über dem Kopf bekam.


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Elias Schneitter

Elias Schneitter, geb. 1953, lebt in Wien und Tirol. Zahlreiche Publikationen. Zuletzt der Erzählband „Fußball ist auch bei Regen schön“ (Edition BAES), der Roman „Ein gutes Pferd zieht noch einmal“ (Kyrene Verlag) und der Gedichtband „Wie geht’s“ in der Stadtlichter Presse, Hamburg. Daneben Tätigkeit als Kleinverleger der edition baes (www.edition-baes.com), wo ein Schwerpunkt auf die Veröffentlichung von Literatur aus der US-amerikanischen Subkultur gelegt wird. Schneitter ist Mitbegründer und Kurator beim internationalen Tiroler Literaturfestival „sprachsalz“ (www.sprachsalz.com) in Hall.

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