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Elias Schneitter
Ein gutes Pferd zieht noch einmal.
Fortsetzungsroman
Folge 12
Meine Mutter war eine bildhübsche und kluge Frau.

Zwei Menschen auf der Suche nach etwas Glück. Eine Geschichte, getragen von Elias Schneitters – bei aller kritischen Distanz – warmherziger Empathie für die sogenannten einfachen Leute, denen auch noch unter den schwierigsten Umständen die Möglichkeit eines zuletzt guten Lebens erhalten bleibt.

Hintergrund der Erzählung ist die Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs nach dem Krieg. Die Ehe der beiden Hauptpersonen steht unter keinem guten Stern. Trotzdem stellen sie sich den Fährnissen des Schicksals, getrieben von der Sehnsucht nach einem halbwegs menschenwürdigen Dasein, nach etwas Wohlstand, vor allem aber nach ein wenig Freundschaft und Liebe.


12. Kapitel

Meine Mutter war eine junge, bildhübsche und auch sehr kluge Frau. Sehr bald war ihr ihre Wirkung auf Männer bewusst geworden und vor allem lernte sie ziemlich rasch, diese für ihre Zwecke einzusetzen. Sie war ein Naturtalent, was Kommunikation und Psychologie betraf.

Zudem verfügte sie über die schauspielerische Gabe, in die verschiedensten Rollen zu schlüpfen, so wie es die Situation gerade erforderte. Sie wusste genau, wie sie die Männer behandeln musste, um sie, wie es so schön heißt, um den Finger zu wickeln.

Mutter verfolgte Ziele. Sie verstand es vorzüglich, ihre Bekanntschaften in Schwebe und auf Distanz zu halten, denn sie war ganz bestimmt keine Frau, die es auf Bettgeschichten abgesehen hatte. Mit Sex hatte sie ihr ganzes Leben ihre liebe Not. Hingabe und Lust – dazu war sie zu blockiert.

Ihre Erfahrungen mit der Sexualität waren nicht gut. Die katholische Erziehung, die unangenehmen Erinnerungen an das elterliche Schlafzimmer, der Schock durch den Tod ihres Bruders, der unglückliche Verlust ihrer Unschuld mit all den Folgen, die ungewollten Schwangerschaften und die ehelichen Pflichten, zu denen sie Vater drängte, weil er Nähe und Liebe wollte, während bei ihr die Angst vor ungewollten Schwangerschaften vorherrschte, mit denen sie bereits konfrontiert worden war. Das alles schreckte sie mehr vor körperlicher Liebe ab, als dass sie genießen hätte können. Nein, Sex war nicht ihr Verlangen.

Bei der Firma Fohringer, Innenausstattung, arbeitete ein Herr Schäfer, der die Stelle eines Abteilungsleiters innehatte. Er war alles andere als eine äußerlich beeindruckende Erscheinung, nicht groß, sehr hager mit einer ungesunden Gesichtsfarbe, die auf ein Darmproblem hinwies, tief liegende, rot geränderte Augen mit großen Tränensäcken und eine Halbglatze.

Stets trug er einen weißen, sauber gebügelten Arbeitsmantel, vermied beim Sprechen den kernigen Tiroler Dialekt, redete nach der Schrift, wie man damals sagte, und war ein Schöngeist: denn nebenbei arbeitete er als Bühnendekorateur beim Tiroler Landestheater. Er war ein gebildeter Mann, hatte familiäre Verbindungen nach Ostdeutschland, war verwandt mit der Schauspielerin Gisela May und verkehrte in den besseren Kreisen der Stadt. Trotzdem kein Mann, bei dem Frauen in Ohnmacht fallen würden.

Meine Mutter freundete sich mit Herrn Schäfer an. Sie empfand sein Hochdeutsch als ein wenig eigenartig, aber es gefiel ihr, und wenn sie auch vom Theaterleben keine Ahnung hatte, so hörte sie aufmerksam zu, wenn er von Aufführungen und von Schauspielern erzählte. Hin und wieder wurde sie von Herrn Schäfer auf einen Kaffee oder einen Tee ins Café Schindler oder ins Café Central eingeladen. Da erfuhr sie dann nicht nur das Neueste, was die städtische Theaterkultur zu bieten hatte, sondern auch Firmeninterna.

Sie hörte interessiert zu, wenn er über betriebliche Belange sprach und auch kleinere Geheimnisse ausplauderte, zum Beispiel, dass der Juniorchef ein Lebemann sei, sich wenig um die Geschicke der Firma kümmere, stattdessen nur die neuesten Automodelle im Kopf habe und auch Beziehungen zu Männern unterhalte. Der Junior sei regelmäßiger Gast in einschlägigen Nachtlokalen und Etablissements, und wenn er mit seinem Lebenswandel so weitermache und sich nicht mehr um die Firma kümmere, würde der Konkurs sehr bald ins Haus stehen.

Natürlich wusste meine Mutter auch von ihren Arbeitskolleginnen von den Eskapaden des Juniorchefs, aber bei Herrn Schäfer spielte sie ganz die naive, ahnungslose Unwissende, damit er mit seinen Geschichten auf seine Rechnung kam.

Mit treuherzigen Augen sagte sie zuweilen bei solchen Kaffeehausbesuchen: Wenn Sie sich, Herr Schäfer, nicht immer ganz und gar so um die Firma kümmern würden, dann stünde die Firma viel, viel schlechter da.

Solche Aussagen verfehlten nicht ihre Wirkung. Jedenfalls hatten die Kaffeehausbesuche bald zur Folge, dass neue Vorhänge und Teppiche und auch Bettwäsche bei uns auftauchten, und das zu den erdenklich besten Konditionen. Beim nächsten Besuch im Café Schindler jedenfalls dankte meine Mutter ganz auf ihre Art. Sie strich die menschliche Größe und Selbstlosigkeit, wie sie Herr Schäfer an den Tag legte, besonders hervor und meinte, dass es ihr fast schon peinlich sei, seine Großzügigkeit in Anspruch zu nehmen. Sie wollte auch die Rechnung im Kaffeehaus bezahlen, aber das hätte Herr Schäfer niemals zugelassen.

Auch verdankte meine Mutter Herrn Schäfer die Bekanntschaft mit Dr. Ravelli, durch die sich das Leben unserer Familie stark verändern sollte. Dr. Ravelli war Radiologe an der Universitätsklinik und leitete zusätzlich das Röntgeninstitut in der Tiroler Gebietskrankenkasse.

Die Familie Ravelli stammte aus Rovereto und übersiedelte in den 1920er-Jahren nach Tirol. Der Vater verstarb jung, sodass seine Frau mit den beiden Söhnen alleine dastand. Trotzdem gelang es ihr, verbunden mit vielen Entbehrungen, dass beide Söhne studieren konnten und es zu angesehenen Radiologen brachten.

Durch seine Erfahrungen in der Jugend und aufgrund seiner sozialen Einstellung spürte Dr. Ravelli zeitlebens eine Verantwortung für die kleinen, einfachen Leute, die nicht auf die Butterseite des Daseins gefallen waren. Darum hatte er auch die Anstellung bei der Krankenkasse angenommen. Ende der 1960er-Jahre suchte er eine Assistentin für das radiologische Ambulatorium, und da kam meine Mutter ins Spiel, weil Herr Schäfer sie seinem Bekannten empfahl. Er kenne eine tüchtige junge Frau, bei der er sich vorstellen könnte, dass das die richtige Person wäre. So lernten sich meine Mutter und der Radiologe kennen.

Meine Mutter hatte die Pflichtschule besucht, die Hälfte davon während der Kriegszeit, und anschließend hatte sie ein Jahr lang eine Hauswirtschaftsschule besucht. Sie hatte nicht nur keine sonstige Ausbildung, von medizinisch-technischen Dingen verstand sie überhaupt nichts. Es gab mehrere Treffen, mehrere Gespräche und schließlich entschied sich Dr. Ravelli, trotz ihrer fehlenden Voraussetzungen, sie als Röntgenassistentin im Ambulatorium der Gebietskrankenkasse aufzunehmen.

Das Dienstverhältnis sollte erst in einem halben Jahr beginnen. Das hatte für meine Mutter den Vorteil, dass sie die Zeit für eine erste grundlegende Ausbildung nutzen konnte. Für sie folgte nun ohne Zweifel die aufregendste Zeit ihres Lebens. Mit Feuereifer widmete sie sich den neuen Herausforderungen. Dabei ging es darum, sich mit medizinischen Grundbegriffen vertraut zu machen. Zusätzlich musste sie auf der Volkshochschule einen Maschinschreibkurs und einen Rechtschreibkurs belegen und auch noch den Führerschein erwerben.

Die Fahrerlaubnis war notwendig, weil sie täglich die Arbeit um sechs Uhr morgens aufzunehmen hatte und um diese Zeit noch kein öffentliches Verkehrsmittel zur Verfügung stand. Der frühe Arbeitsbeginn war wegen der medizinischen Apparaturen notwendig, die eine entsprechende Anlaufzeit benötigten.

Jedenfalls war meine Mutter damals mehr als gefordert. Zu Hause lagen Rechtschreibfibeln herum, meine Schwester musste mit ihr Diktate machen, ihr die Rechtschreibregeln beibringen, ebenso wurde eine Schreibmaschine angeschafft und ein Untermieter, der damals bei uns lebte, musste mit ihr Autofahrstunden absolvieren und ihr die Kreuzungsregeln beibringen.

Aber meine Mutter war von einer derartigen Willenskraft beflügelt, dass sie alles auf sich nahm und sich mit Volldampf in die Materie einarbeitete, sodass sie die Führerscheinprüfung beim ersten Mal bestand, stundenlang in die Schreibmaschine klopfte, seitenlange Diktate schrieb und auch in kürzester Zeit eine medizinische Ausbildung zur Hilfskrankenschwester absolvierte.

Sie trat also die Stelle in der Krankenkasse an, ausgerechnet in jener Institution, von der der Konkursantrag für die Tischlerei meines Vaters ausgegangen war.

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Elias Schneitter

Elias Schneitter, geb. 1953, lebt in Wien und Tirol. Zahlreiche Publikationen. Zuletzt der Erzählband „Fußball ist auch bei Regen schön“ (Edition BAES), der Roman „Ein gutes Pferd zieht noch einmal“ (Kyrene Verlag) und der Gedichtband „Wie geht’s“ in der Stadtlichter Presse, Hamburg. Daneben Tätigkeit als Kleinverleger der edition baes (www.edition-baes.com), wo ein Schwerpunkt auf die Veröffentlichung von Literatur aus der US-amerikanischen Subkultur gelegt wird. Schneitter ist Mitbegründer und Kurator beim internationalen Tiroler Literaturfestival „sprachsalz“ (www.sprachsalz.com) in Hall.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Rudolf Ostermann

    Immer wieder faszinierend, wie du zu solch detaillierten Informationen gelangen konntest.

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