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Elias Schneitter
Ein gutes Pferd zieht noch einmal.
Fortsetzungsroman
Folge 18
Ausgewandert

Zwei Menschen auf der Suche nach etwas Glück. Eine Geschichte, getragen von Elias Schneitters – bei aller kritischen Distanz – warmherziger Empathie für die sogenannten einfachen Leute, denen auch noch unter den schwierigsten Umständen die Möglichkeit eines zuletzt guten Lebens erhalten bleibt.

Hintergrund der Erzählung ist die Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs nach dem Krieg. Die Ehe der beiden Hauptpersonen steht unter keinem guten Stern. Trotzdem stellen sie sich den Fährnissen des Schicksals, getrieben von der Sehnsucht nach einem halbwegs menschenwürdigen Dasein, nach etwas Wohlstand, vor allem aber nach ein wenig Freundschaft und Liebe.


18. Kapitel

Jahre später – Dr. Gerscha war schon verstorben – erwischte mich das Herzrasen zu Hause noch einmal und unser junger Hausarzt kam ins Haus und injizierte mir Isoptin, worauf der Anfall in der nächsten Minute vorbei war. Das verlieh mir zusätzlich die Sicherheit, dass es eine ärztliche Behandlung gab, die sofort wirkte, nicht so wie früher, wo man einfach abwarten musste, bis sich die Situation von selbst wieder regelte. Das Wort Isoptin nahm mir viel Angst.

Durch meine besonderen gesundheitlichen Probleme und dadurch, dass ich und auch mein Schulfreund Alois älter waren als der Rest der Klasse, und das Internat zudem wegen der großen Nachfrage aus allen Nähten platzte, sollte uns ein besonderes Privileg zuteil werden. Wir bekamen ein Zimmer in der Klausur. 

Damit waren wir sofort einverstanden, denn das brachte einige Vorteile mit sich. Vor allem standen wir nicht mehr so unter Aufsicht wie im normalen Internat. Wir mussten keine vorgeschriebenen Studienzeiten einhalten und auch sonst hatten wir größere Freiheiten.

Bis zur siebten Klasse hatte ich kaum schulische Probleme, was sich dann aber massiv ändern sollte. In den Sommerferien davor hatte ich eine Liebesaffäre, die natürlich unglücklich verlief und mich zutiefst erschütterte. So kehrte ich unglücklich und am Boden zerstört in die klösterliche Klausur zurück. 

Im neuen Schuljahr bekamen wir zudem das neue Fach Darstellende Geometrie  aufgebrummt. Die unglückliche Liebe und diese Darstellende Geometrie warfen mich völlig aus der Bahn. Zur Geometrie fehlte mir jeglicher Zugang. Die zweidimensionale Darstellung des dreidimensionalen Raumes wollte mir nicht in den Kopf und in Verbindung mit dem Liebeskummer kam mir jegliche Lust an der Schule abhanden, sodass sich auch Nachlässigkeit in allen anderen Fächern einstellte.

Damals freundete ich mich mit einem externen Schüler an, der als schwieriger Zeitgenosse bekannt war. Er war fast schon kleinwüchsig, hochintelligent und redete andauernd von Selbstmord. Er wollte sich mit dem Gift der Tollkirsche beseitigen. 

Wenn er nicht von Selbstmord redete, dann hatte er die Vorstellung, als Mönch am Berg Athos zu leben oder in ein Kartäuserkloster in Slowenien einzutreten. Die Kartäuser waren seiner Erzählung nach der strengste Orden und bei den Kartäusermönchen herrschte ein striktes Redeverbot und sie würden auch in ihren Särgen schlafen. Da wollte mein Schulfreund hin und er verschwand dann auch immer wieder für einige Wochen und besuchte angeblich dieses und auch andere Klöster mit den strengsten Ordensregeln.

Interessanterweise gehörte er trotz seiner zahlreichen Fehlstunden zu den Besten in der Klasse und die Darstellende Geometrie beherrschte er mit links. Auch hatte er ein großes künstlerisches Talent und unser Kunsterzieher, selbst ein anerkannter Künstler, meinte immer wieder, er solle nach der Matura auf die Kunstakademie nach Wien wechseln. 

Aber eine Künstlerlaufbahn schien meinen Freund nicht zu interessieren. Sein Interesse galt dem Selbstmord und den Kartäusern. Ich verbrachte viele Nachmittage bei ihm in seinem Untermietzimmer. Manchmal versuchte er auch mir Darstellende Geometrie beizubringen, aber das war hoffnungslos. Im Radio hörten wir am Nachmittag immer die Musicbox und sehr häufig die traurigen Songs von Leonard Cohen. 

Seine Lieblingsautoren waren Hermann Hesse, dessen Glasperlenspiel und der Steppenwolf, und Franz Kafka, vor allem Franz Kafka. Besonders interessierten ihn dabei die tragischen Liebesverhältnisse des Prager Versicherungsangestellten. Jahrzehnte später sollte ich zufällig wieder in Kontakt mit ihm kommen. Er war noch immer dieser zerrissene Geist wie in der Schulzeit und erzählte mir, eher beiläufig, dass er damals eine Freundin gehabt habe, die sich aber auch mit anderen vergnügte, und als er das erfuhr, traf ihn das so hart, dass er sich sofort mit Tollkirschen aus dem Weg räumen wollte. Inzwischen lebte er mit einer Religionslehrerin zusammen und produzierte Bilder.

Während sich in der siebten Klasse mein damaliger Freund also mit den verrückten Mönchen und der Tollkirsche auseinandersetzte, hatte auch ich meine doch eher vagen Zukunftspläne. Ich wollte die Schule verlassen und in die USA auswandern und alles zurücklassen. 

Natürlich weihte ich meine Eltern nicht in dieses Vorhaben ein, sondern sagte bloß, dass ich mein Englisch verbessern wolle. Also begann ich mich näher für die USA  zu interessieren und es gelang mir auch, eine Verbindung zu einer YMCA herzustellen, die mir eine Arbeit in einem Sommerlager in Minnesota vermittelte. 

Ich nahm Kontakt mit Tom Klenz auf, der Leiter eines Jugendlagers in Sturgeon Lake war. Er sagte mir zu, dass er mich über die Sommermonate im Jugendcamp als counselor beschäftigen würde. Von der Botschaft in Wien erhielt ich ohne Probleme ein Visum über vier Jahre. Also stand einer Auswanderung nur noch wenig im Wege. 

Ich musste die Schulklasse um drei Wochen früher verlassen. In Darstellender Geometrie hatte ich vorher noch eine entscheidende Prüfung abzulegen, die über vier oder fünf – also Wiederholungsprüfung im Herbst oder nicht – entscheiden sollte. 

Natürlich rasselte ich wieder einmal durch. Der Professor holte mich danach noch zu einem Gespräch in sein Büro. Er entschuldigte sich beinahe, dass er mir ein Nichtgenügend geben müsse. Ich antwortete ihm, dass mir das klar wäre. Die Sache belastete mich nicht besonders, weil ich ja ohnehin andere Pläne hatte. 

So verließ ich die Klosterschule in Richtung USA, fuhr von New York mit dem Greyhound nach Chicago, stieg in den Bus nach Minneapolis/St. Paul um, dann in den Bus Richtung Duluth am Michigan See, wo mich Tom Klenz an der Haltestelle in Willow River abholte und mich ins Camp beim Sturgeon Lake brachte. 

Dort hatte ich Kinder zwischen acht und zwölf zu betreuen, die aus schwierigen sozialen Verhältnissen kamen. Am Morgen hissten wir die Flagge, es gab das Motto zum Tag und dann den Yankee Doodle. Am Abend wurden ein Lagerfeuer entfacht und Marshmallows über die Flamme gehalten und Frankfurter gebraten und die Fahne wieder bei entsprechender patriotischer Musik heruntergeholt und genau nach Vorschrift zusammengelegt. Einmal fiel sie mir zu Boden und die bösen Blicke von Tom Klenz verfolgen mich noch heute.

Meine Aufgaben im Camp bestanden neben der Aufsicht – wir schliefen in Holzbaracken – darin, dass ich den Buben canoeing und Fußball beibrachte. Ich war mein Lebtag noch nie in einem canoeing-Boot gesessen, aber nach einem Schnellsiedekurs paddelte ich mit den Jungs täglich auf den See hinaus und am Nachmittag versuchte ich ihnen Fußball beizubringen, was nicht so einfach war, weil die mit Fußball wenig anfangen konnten. Meistens nahmen sie die Hände zu Hilfe. 

Aber das war nicht so wichtig, Hauptsache, die Burschen hatten ihren Spaß. Und Spaß hatten wir wirklich. Da ich aus Österreich war, redeten mich alle auf Sound of Music an, jenen Film, den ich nicht kannte, und die anderen staff-Mitglieder wollten immer, dass ich jodeln sollte und auch so komisch herumhüpfen. Sie meinten Schuhplattln. Leider konnte ich auch damit nicht dienen. 

Andererseits konnte ich sie aber mit meinem Bierkonsum beeindrucken, denn einmal in der Woche hatten wir night off und da fuhren wir immer in die gleiche Bar und bestellten mehrere Pitcher Bier, also einen Zwei-Liter-Krug, und ich trank dann immer so viel, dass sie mich schließlich betrunken auf die Ladefläche eines Pick-ups legten und so nach Hause brachten. Irgendwann erhielt ich von meiner Mutter einen Brief, in dem sie mir voll Freude mitteilte, dass ich in Darstellender Geometrie ein Genügend bekommen hätte, sodass ich also in die Maturaklasse ohne Wiederholungsprüfung aufsteigen konnte.

Was meine jugendlichen Auswanderungspläne anlangte, hatte ich keine genauen Vorstellungen, wie es mit mir nach dem Sommercamp in der Neuen Welt weitergehen sollte. Meine Absichten waren auch nicht unbedingt in Stein gemeißelt, eher brüchig, auf jeden Fall nicht durchdacht, und entsprangen eher einem Gefühl von Selbstmitleid. 

Als das Sommercamp nach zwei Monaten beendet war, bot mir Tom Klenz an, dass ich im kommenden Jahr wieder am Sturgeon Lake arbeiten könne. Aber was sollte ich in der Zwischenzeit unternehmen? Ich kannte niemanden in den USA, ich hätte nicht gewusst, wohin ich mich hätte wenden sollen. Meine Auswanderungspläne verlöschten wie Strohfeuer. Ich erhielt meinen Lohn und dazu gehörte auch ein Ticket mit dem Greyhound zurück nach New York, ein einwöchiger Aufenthalt im YMCA-Hotel in der dreiundzwanzigsten Straße und auch das Rückflugticket zurück nach Europa. 

Mit meinem Seesack, den mir mein Tapezierer-Onkel eigens für die Reise genäht hatte, fuhr ich also nach New York und bezog für eine Woche ein Zimmer gemeinsam mit einem Deutschen, der in einem anderen Camp gearbeitet hatte. Der Bursche war voll Tatendrang, ganz im Gegensatz zu mir. Ich verließ das Zimmer nur, um mir etwas zum Essen und zum Trinken zu holen, ansonsten lag ich vor dem Fernsehapparat und verfolgte die Wahl zur Miss USA, die über eine ganze Woche lief. 

Spät am Abend kam der Deutsche völlig ausgelaugt zurück und fragte, was ich gemacht hätte. Er war völlig aus dem Häuschen über meine Antwort. Er versuchte mich zu ermuntern, doch etwas zu unternehmen. Ich hatte aber keine Lust. Im Hotel war auch ein Spanier. Ich kannte ihn vom Einkaufen. Einmal fragte er mich, was ich am Abend machen würde, und er lud mich für den Abend ein, zu ihm auf sein Zimmer zu kommen. Zwei befreundete Musiker würden kommen, die in New York waren, um ihre neue LP aufzunehmen. 

Das Zimmer war zwei Stockwerke tiefer und ich ging am Abend hinunter und wir tranken Bier und unterhielten uns. Später tauchten die zwei Musiker auf. Auch sie tranken Bier, aber nicht übermäßig viel, und einer bat, dass man bitte nicht rauchen möge, obwohl das Fenster geöffnet war. 

Unterbrochen von belanglosen Gesprächen griffen die beiden immer wieder zu ihren Gitarren und präsentierten einige Nummern aus ihrem Repertoire. Spät in der Nacht machten wir uns auf den Weg ins Chinesen-Viertel, wo wir etwas speisten, ehe sich die beiden Musiker verabschiedeten. 

Einer der beiden Musiker war kein Geringerer als Cat Stevens und als ich das dem Deutschen am nächsten Tag erzählte, war er völlig fertig. Er lief wie ein Verrückter durch die Stadt, um alles einzusaugen, und ich, der nichts unternahm, hatte ein Hotelkonzert mit Cat Stevens. 

Jedenfalls forderte er mich nicht mehr auf, etwas zu unternehmen, sondern ließ mich wortlos vor dem Fernsehapparat liegen. Ich kehrte nach Europa, nach Hause und in die Klosterschule zurück und ich sollte dann auch – was für mich ansonsten ungewöhnlich war – die Matura auf Anhieb schaffen.

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Elias Schneitter

Elias Schneitter, geb. 1953, lebt in Wien und Tirol. Zahlreiche Publikationen. Zuletzt der Erzählband „Fußball ist auch bei Regen schön“ (Edition BAES), der Roman „Ein gutes Pferd zieht noch einmal“ (Kyrene Verlag) und der Gedichtband „Wie geht’s“ in der Stadtlichter Presse, Hamburg. Daneben Tätigkeit als Kleinverleger der edition baes (www.edition-baes.com), wo ein Schwerpunkt auf die Veröffentlichung von Literatur aus der US-amerikanischen Subkultur gelegt wird. Schneitter ist Mitbegründer und Kurator beim internationalen Tiroler Literaturfestival „sprachsalz“ (www.sprachsalz.com) in Hall.

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