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Elias Schneitter
Ein gutes Pferd zieht noch einmal.
Fortsetzungsroman
Folge 2

Zwei Menschen auf der Suche nach etwas Glück. Eine Geschichte, getragen von Elias Schneitters – bei aller kritischen Distanz – warmherziger Empathie für die sogenannten einfachen Leute, denen auch noch unter den schwierigsten Umständen die Möglichkeit eines zuletzt guten Lebens erhalten bleibt.

Hintergrund der Erzählung ist die Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs nach dem Krieg. Die Ehe der beiden Hauptpersonen steht unter keinem guten Stern. Trotzdem stellen sie sich den Fährnissen des Schicksals, getrieben von der Sehnsucht nach einem halbwegs menschenwürdigen Dasein, nach etwas Wohlstand, vor allem aber nach ein wenig Freundschaft und Liebe.


2.Kapitel

Zum Besitz meiner Großeltern gehörte auch Thomasegg, eine Bergalm auf 1.400 Metern Seehöhe, die nur in den Sommermonaten bewirtschaftet wurde. Vom Bauernhof aus benötigte man gut eineinhalb Stunden, um zur Holzhütte zu gelangen, sofern man gut bei Fuß war. Ein Teil des Weges war zuerst eine etwas breitere Forststraße, ehe der Großteil dann auf einem schmalen Fußweg zurückgelegt werden musste.

Im Frühjahr 1937 brannte die Almhütte aus ungeklärten Gründen zur Gänze ab. Darum ging man nach den Aufräumungsarbeiten sofort wieder daran, eine neue Hütte zu errichten. Das Material, vorwiegend Holzbretter, wurde teilweise mithilfe eines Esels, aber auch auf den Schultern vom Tal aus nach Thomasegg gebracht. Für diese Arbeit wurden vor allem die ältesten Buben herangezogen. Sie legten den Weg täglich einmal vormittags und einmal nachmittags zurück, je nach Größe und Kraft beladen mit zwei bis drei Brettern.

In der Nachbarschaft lebte die Haider Fini, eine vornehme Dame, die Alpenpflanzen sammelte, sie trocknete und damit kleine Geschenkartikel für den Verkauf in den Geschäften der Stadt anfertigte. Deshalb trug sie ihren Nachbarskindern auf, sie sollten ihr von Thomasegg Bergblumen mitbringen. Damit konnten sich die Kleinen ein paar Groschen verdienen.

Einmal auf dem Rückweg entdeckten die drei Buben auf einem kleinen Felsvorsprung einige prächtig blühende Platenigl. Mein Vater sollte diese holen, weil er der Älteste und auch der Wendigste war. Vorerst ging alles gut, er gelangte auch in die Reichweite der Blumen. Als er sie aber pflücken wollte, rutschte er aus, versuchte bei einem Grasbüschel Halt zu finden, aber der riss aus und er stürzte gut zwanzig Meter in die Tiefe.

Die Stelle, wo der Unfall passierte, wird die Rossfalle genannt, und gerade zwei Jahre vorher war hier ein zwölfjähriger Bub aus dem Ort verunglückt und bald darauf an den Folgen des Absturzes verstorben. Mein Vater hatte das Glück, dass der Fall von den Ästen eines Fichtenbaumes abgebremst wurde. Er erlitt eine schwere Kopfverletzung vorne an der Stirn und auch das linke Knie war lädiert. Trotzdem gelang es ihm mit Hilfe seines Bruder Othmar und des Kuenz’n Karl, eines Freundes, ins Tal zum Arzt zu kommen. Dieser ordnete sofort, nachdem er ihn notdürftig versorgt hatte, die Einlieferung in das Krankenhaus in Innsbruck an.

Mein herbeigeeilter Großvater kontaktierte einen guten Kollegen von der Dorfmusikkapelle. Dieser besaß ein Motorrad mit Beiwagen, den er umgebaut und durch eine Holzkiste ersetzt hatte, weil er die für den Transport von Milchkannen in Verwendung hatte. Die Ehefrau des Hausarztes Dr. Purtscheller stattete die Holzkiste nun notdürftig mit einem Bett aus und in diesem Gefährt wurde mein Vater ins zwölf Kilometer entfernte Krankenhaus nach Innsbruck gebracht.

Den Ärzten dort erschien es wie ein kleines Wunder, dass er das Bewusstsein erst verlor, als er im Krankenhaus ankam. Bei der sofort durchgeführten Notoperation wurden die Wunden gereinigt und genäht. Obwohl mein Vater bei diesem Unfall keine Gehirnverletzungen davontrug, erschien den Ärzten seine Lage als hoffnungslos. Jedenfalls wurde er ins Sterbezimmer gelegt, und als er wieder zu sich kam, saß eine betende Ordensschwester neben ihm, während er von großem Durst geplagt wurde und nichts anderes als etwas zu trinken wünschte. Da die anfänglichen Befürchtungen der Ärzte nicht eintraten, wurde der Patient einige Tage später mit örtlicher Betäubung am Knie operiert.

Diese Operation wurde von Dr. Kiener, einem Spross der Salzburger Bierbrauerdynastie Stiegl, vorgenommen. Er wollte auch, sobald sich der Zustand des Vaters stabilisiert hatte, die zweite Operation am Kopf vornehmen. Dabei sollte meinem Vater an der Stirnseite eine mit Silber legierte Metallplatte in der Größe einer Zwei-Euro-Münze eingesetzt werden.

Das war eine Operationsmethode, die an der Innsbrucker Universitätsklinik noch nie durchgeführt worden war. Daher wurde mein Vater während seiner einjährigen Genesungszeit auch häufig zu Vorlesungen eingeladen und den Studenten vorgeführt. Die veranstalteten dann aus Mitleid mit dem zwölfjährigen, bemitleidenswerten Bürschchen Geldsammlungen.

Als mein Vater so weit hergestellt war, dass ein Termin für diese schwere Kopfoperation festgelegt werden konnte, wurde er vorher für einige Tage nach Hause geschickt, damit er in seiner vertrauten Umgebung Kräfte sammeln konnte. Zum Schutz der Wunde wurde ein kleiner Stahlhelm angefertigt. Als der Tag kam, an dem er wieder in die Klinik zurückmusste, packte ihm die Großmutter einige Sachen zusammen und schickte ihren Sohn in Begleitung einer Schwester zum Dorfplatz.

Dort befand sich eine Benzinpumpe von Esso und sie sagte zu ihm, er und die Schwester sollten nach einem Auto Ausschau halten, das zum Tanken komme, und dann fragen, ob der Fahrer meinen Vater mit Stahlhelm nach Innsbruck mitnehmen könne. Dieser Automobilfahrer war zufällig der Plattner Hans, der außerhalb des Ortes den Steinbruch und im Dorf den Gasthof Löwen betrieb. Nach dem Krieg sollte er für einige Jahre das Bürgermeisteramt bekleiden, ehe er, gar nicht weit von der Benzinpumpe entfernt, als Fußgänger am Gehsteig von einem Auto niedergefahren wurde und noch an Ort und Stelle verstarb.

Der Plattner Hans war ein allseits beliebter und leutseliger Mensch, auch wenn er nicht als Feingeist verschrien war. Dennoch wunderte er sich über die Hartherzigkeit meiner Großmutter. Jedenfalls brachte er aus Mitgefühl meinen Vater direkt zum Krankenhaus, steckte ihm sogar noch ein paar Groschen zu und wünschte ihm für die Operation alles Gute.

Die große Operation wurde dann am 6. Oktober 1937 von Dr. Kiener und seinem Team vorgenommen. Der Eingriff nahm vier Stunden in Anspruch, wobei mein Vater alles bei vollem Bewusstsein über sich ergehen lassen musste. Eine Ordensschwester redete unentwegt mit ihm, um ihm ein wenig Ablenkung zu verschaffen.

Die Operation verlief, wie sich bald herausstellte, sehr erfolgreich. Die Erholung schritt wider Erwarten rasch voran. Sogar die Innsbrucker Nachrichten berichteten über die neue chirurgische Meisterleistung an der Universitätsklinik Innsbruck.

Auch war mein Vater dem Arzt Dr. Kiener sehr ans Herz gewachsen und dieser kümmerte sich auch in seiner Freizeit um seinen kleinen Patienten. Da er aus einem vornehmen und sehr begüterten Haus stammte, konnte er sich eine amerikanische Luxuslimousine leisten. Mit der unternahm er mit meinem Vater mehrere Ausflüge in die nähere Umgebung der Stadt, hinauf zur Hungerburg und auch hinunter ins Unterland. Auch versorgte er meinen Vater regelmäßig mit kleinen Geschenken, und zu seinem Geburtstag am Heiligen Abend bekam er vom Christkind sogar eine nagelneue Modelleisenbahn aus Holz.

Die größte Wohltat von Dr. Kiener war es aber, dass er den Großteil der Kosten für die medizinische Behandlung aus eigener Tasche bezahlte. Es mag auch eine Rolle gespielt haben, dass er sich mit dieser Operation in Fachkreisen einen Namen machen konnte, aber es war für den Vater ein unglaubliches Glück, dass er diesem Arzt in die Hände gefallen war. Damals gab es für landwirtschaftliche und selbständige Betriebe keine gesetzliche Krankenversicherung und die Großeltern hätten sich die Behandlung nur leisten können, wenn sie Vieh oder ein Grundstück verkauft hätten. Ich bin mir nicht sicher, ob das in der damaligen Situation auch geschehen wäre.

Zufällig wurde zu jener Zeit auch ein arbeitsloser und obdachloser Mann mit einer ähnlichen Verletzung wie bei meinem Vater eingeliefert. Zugezogen hatte er sie sich bei einer Rauferei, bei der der Kontrahent mit einer Holzhacke auf ihn losgegangen war. Er wurde zwar notversorgt, aber nicht operiert, da niemand für die Kosten aufgekommen wäre, sodass er wenige Wochen später verstarb.

Am 7. Mai 1938, auf den Tag genau nach einem Jahr Krankenhausaufenthalt, wurde mein Vater entlassen und konnte wieder nach Hause gehen. Der Abschied fiel ihm nicht leicht, denn eine so gute Zeit wie während der letzten Monate nach der Operation hatte er in seinem bisherigen Leben noch nicht erlebt.

Der Kontakt zu Dr. Kiener blieb noch einige Jahre aufrecht. Die Großmutter schickte ihm während des Krieges Pakete mit Speck und Würsten an die jeweilige Dienststelle, aber irgendwann verlief sich diese Spur.

Fortsetzung folgt.


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Elias Schneitter

Elias Schneitter, geb. 1953, lebt in Wien und Tirol. Zahlreiche Publikationen. Zuletzt der Erzählband „Fußball ist auch bei Regen schön“ (Edition BAES), der Roman „Ein gutes Pferd zieht noch einmal“ (Kyrene Verlag) und der Gedichtband „Wie geht’s“ in der Stadtlichter Presse, Hamburg. Daneben Tätigkeit als Kleinverleger der edition baes (www.edition-baes.com), wo ein Schwerpunkt auf die Veröffentlichung von Literatur aus der US-amerikanischen Subkultur gelegt wird. Schneitter ist Mitbegründer und Kurator beim internationalen Tiroler Literaturfestival „sprachsalz“ (www.sprachsalz.com) in Hall.

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