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Elias Schneitter
Brief nach Russland
Notizen

Eure großen Schriftsteller, die wir mit Bewunderung verschlungen haben, haben uns die zerrissenen gemarterten Seelen des russischen Volkes nahegebracht. Tolstoi, Dostojewski, Bulgakow, Solschenizyn, Charms…

Krieg, Revolution, Hunger, Leibeigenschaft, Unterdrückung waren das tägliche Brot der Völker, das die Herzen und die Seelen geprägt hat. Denn nie hat es ein Ende, eine Befreiung aus diesen Fesseln gegeben.

Eure Schriftsteller haben das detailgenau beschrieben.

Nun führt euch ein weiteres Regime der Verzweiflung zu neuen Höhen. Der Westen ist die dekadente Bedrohung. Die NATO. Die steht mit ihren Armeen und tödlichen Waffen vor eurer Tür und will euch vernichten. So in euren Köpfen!

Ja, ihr müsst euch wehren! Zuviel steht auf dem Spiel. Es geht um eure Würde, um die Rettung eurer zerrissenen Seelen.

Ihr führt keine Kriege. Ihr kämpft nur gegen das Böse. Ihr tötet nicht eure Brüder, ihr holt sie nur auf den rechten Weg zurück. Befreit sie vor dem Irrweg des Westens.

Auf dem Land, auf dem unendlich weiten Land, seid ihr Armut gewöhnt. Darum kann man euch wenig wegnehmen, weil ihr wenig bis gar nichts habt, außer euren Stolz und eure Ehre. Und diese werden von euren Soldaten (nicht aus Moskau oder St. Petersburg) verteidigt. Wahre Helden, wie sie der große Friedensengel aus St. Petersburg bezeichnet, weil sie die Drecksarbeit zu erledigen haben.

Der böse Westen hat schon seine Krakenarme eingezogen und das Land verlassen. Mc Donalds, Starbucks, Autofirmen, die verlängerten Arme der Dekadenz und des Untergangs. Gut, dass sie endlich weg sind aus eurem heiligen wunderbaren Land.

Mein Mitleid und meine Empathie ist ganz bei euch und mit euch. Was bietet der Westen für ein Bild in der Verkörperung des drittklassigen Komikers Selensky, der zerstörte Straßenzüge mit Leichen auf den Gehsteigen wie Potemkische Dörfer als Filmkulisse für die dekadenten Medien drapieren lässt? Wie in Hollywood!

Aber eure Köpfe sind resistent gegen diese Lügen. Schließlich sind eure Kerzen von der Orthodoxie gesegnet und geweiht.

Das ist die Wahrheit, denn jede Wahrheit ist auch eine Lüge. Aber es werden – auch für euch – wieder andere Zeiten anbrechen.

Eure Väter und Großväter haben heldenhaft gegen den Nazismus gekämpft. Nun seid ihr ihnen gefolgt, nur leider in die andere Richtung.

Und sollten dann diese anderen Zeiten, wie es für euch zu hoffen ist, kommen und Einzug halten, nach dem Ende des Regimes des Friedensengels im Kreml, dann kann das getretene, zerrissene russische Volk seine Hände in Unschuld waschen, wie es danach immer ist: man hat nichts gewusst, man war machtlos, man war wieder einmal nur das Opfer böser Mächte!

Und es wird heißen: wer ohne Schuld, der werfe den ersten Stein! Und die russische Seele wird weiter bluten wie all die Jahrzehnte vorher auch.

Note 1: Kommentar eines Wieners mit Migrationshintergrund (Ex-Jugoslawien) in einem Hernalser Vorstadtbeisl in der Wurlitzergasse: „Wann meine Kinda frieren in die nägsten Winter, dann dreh i dem ersten Russ die Gurgel um, wos i triff auf da Straß.“

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Elias Schneitter

Elias Schneitter, geb. 1953, lebt in Wien und Tirol. Zahlreiche Publikationen. Zuletzt der Erzählband „Fußball ist auch bei Regen schön“ (Edition BAES), der Roman „Ein gutes Pferd zieht noch einmal“ (Kyrene Verlag) und der Gedichtband „Wie geht’s“ in der Stadtlichter Presse, Hamburg. Daneben Tätigkeit als Kleinverleger der edition baes (www.edition-baes.com), wo ein Schwerpunkt auf die Veröffentlichung von Literatur aus der US-amerikanischen Subkultur gelegt wird. Schneitter ist Mitbegründer und Kurator beim internationalen Tiroler Literaturfestival „sprachsalz“ (www.sprachsalz.com) in Hall.

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