Egyd Gstättner
Die Medien, die Hybris und ich
Essay

Ich lese keine Zeitung. Ich höre kein Radio. Ich sehe nicht fern. Ich bin uninformiert, ununterhalten, unbelehrbar. Ich bin auf mich selbst angewiesen, im Wesentlichen – und im Unwesentlichen auch. 

Ich lebe jenseits der Kunstwelt da draußen, also der künstlichen Welt. Bücher lese ich, wenn auch freilich keine, die in der Zeitung empfohlen werden und keine, die auf einer Bestsellerliste stehen. Das ist der Status quo.

Das ist nicht immer so gewesen. Ich habe früher oft Radio gehört, lange ferngesehen, viel Zeitung gelesen. Als Junger habe ich Zeitungen förmlich verschlungen und wollte unbedingt in die Zeitung und ins Radio und ins Fernsehen kommen, was mir und von vielen Rückschlägen und Absagen und Zurückweisungen begleitet nach und nach tatsächlich gelungen ist, so dass man sagen kann: Die Zeitungen und die Radiostationen und das Fernsehen sind etliche Jahre lang mein Leben gewesen, bevor die Bücher mein Leben geworden sind.

Bevor ich Schreiber und Erzähler war, war ich Leser. Ich war wissensdurstig, neuigkeitssüchtig. Ich war unterrichtet und informiert über den Zustand der Welt und des Landes und der Stadt, jedenfalls glaubte ich das. 

Selbstverständlich haben mich die Informationen manchmal fasziniert, öfter deprimiert und demoralisiert, frustriert oder empört. Ich kannte Menschen, die ich niemals kennengelernt hatte, ich schätzte oder verachtete Menschen, die ich nie mit eigenen Augen gesehen, mit denen ich nie gesprochen hatte. Ich wusste Bescheid über politische Entwicklungen, kulturelle oder spitzensportliche Ereignisse. Ich konnte Tabellenstände ebenso wie Hitparaden auswendig herunterbeten. 

Ich bildete mir zu all den kolportierten Phänomenen da draußen auch eine Meinung und einen Geschmack. Ich las Expertenmeinungen und übernahm oder bezweifelte sie. Ich fühlte mich orientiert und unterhalten, aufgeklärt und mündig. 

Ich durchschaute schnell, dass auch das Objektive ein wenig subjektiv war, aber nur bis zu einem gewissen Grad, der – Ideologie hin, Philosophie her – nicht überschritten werden durfte. Es gab Versuche, mich zu manipulieren, aber sie waren so platt, dass sie leicht zu erkennen und mit einem Schmunzeln oder einem Kopfschütteln zu quittieren waren. 

Es gab Blattlinien, aber keine Blattknoten, je nach Blatt verlief die Linie ein wenig anders und sie verlief gestern so wie heute und wie morgen, darauf wenigstens konnte man sich verlassen. Letztlich berichteten sie über die Wirklichkeit da draußen, wenn auch mit Brille, wie sie war, nicht wie sie ihrer Meinung nach sein sollte und wie sie sie gerne hätten.

So ging das über Jahrzehnte, und dann wurde in der kürzesten Zeit wie auf Kommando alles anders: Es gab immer weniger Neuigkeiten und immer mehr Regeln. Es passierte immer weniger, es wurde immer mehr beschlossen. Die Medien berichteten nicht mehr, sie richteten. Die Medien schrieben nicht mehr, sie schrieben vor: Was ging, was nicht ging. Wen man zu kennen hatte, wen nicht. Wem man zu glauben hatte, wem nicht. Was man wissen musste, was nicht. Was man brauchte, was nicht. Was man glauben sollte, was nicht. Was man denken sollte, was nicht. 

Die Medien schrieben (und zeigten und machten) vor, wie man sich (korrekt) zu verhalten hatte, wie man (korrekt) zu sprechen hatte, welche Worte und Phrasen erwünscht, welche verboten waren. 

Das alles wollten die Leser nicht lesen, aber sie lasen es, weil sie nichts anderes zu lesen bekamen. Sie ließen sich das nicht gefallen, aber bieten. Man ist Gebührenzahler und Abonnent, man kündigt sein Abo nicht. Man droht damit, sein Abo zu kündigen, aber man kündigt es nicht. Man tritt aus der Kirche aus, aber man kündigt sein Abo nicht. Man geht nicht zur Wahl, aber man kündigt sein Abo nicht. Man lässt sich scheiden, aber man kündigt sein Abo nicht. Abonnenten sind nicht so leicht zu vertreiben. Es ist zum Staunen, was ein guter Abonnent vertragen kann. (Zitiert! Von wem? Das verrate ich nur noch gegen Honorar).

Die Medien berichteten nicht mehr über die Wirklichkeit, sie gestalteten, veranstalteten und verwalteten sie. Sie erzeugten die Wirklichkeit, die ihnen passende Wirklichkeit; die ihnen unpassende Wirklichkeit vernichteten sie, indem sie sie verschwiegen, wegschwiegen, totschwiegen. 

So gab es in der Zeitung und im Fernsehen immer weniger Nachrichten, immer mehr Belehrungen. Immer weniger Wirklichkeit. Immer mehr Meinung. Meinungswirklichkeit. Immer weniger Wahrheit, immer mehr Meinung. Meinungswahrheit. Modemeinungswahrheit. Generelle Modemeinungswahrheitsanerkennungspflicht. Herrschende Machtmeinung. 

Die Berichte, Artikel, Reportagen strotzten vor infiltrierten Meinungen, Haltungen, Werthaltungen, Verhaltensmaßregeln, Doktrinen, Musts, No-gos. Meinungsdiktatur, Werthaltungsdiktatur. Man informierte nicht mehr, man servierte. Oder man servierte ab. Wer sich den Lehren nicht beugte, den ließ man durchfallen, den schied man aus, den isolierte und ignorierte oder diffamierte man. 

Wen diese Lehren nicht mehr erfreuten, der verdiente es nicht mehr, ein Mensch zu sein. Zwangsabgabe musste man trotzdem leisten. Selbstverständlich werde ich diesen Text in keinem dieser Medien veröffentlichen und niemand in meiner Gegenwart wird ihn jemals lesen können, keine Zeitung, kein Radio, kein Fernsehen würde ihn publizieren. Die Wahrheit ist der Macht nicht zumutbar.

Die Medienhäuser und Konzerne hatten ihr Kapital maximiert, ihre Reichweite. Ihre Reichweite war ihre Macht, die exekutierten und demonstrierten sie jetzt. Man baute sich Paläste, die in den Himmel ragten und die man nicht mehr verließ. Darin zimmerte man sich die ferngesteuerte Gesellschaft, die man haben wollte, die man benutzen konnte, chinesisch lächelnd. 

Später verschanzte und verbarrikadierte man sich in den Palästen hinter den auf ihre Zuverlässigkeit und Hörigkeit getesteten neuen Helden, den Heldenexperten, den Heldenpolitologen, den Heldenschriftstellern, den Heldenköchen, den Heldenpsychologen, den Heldenpädagogen und den Heldengärtnern, all diesen Nutzhelden und Nutzheldinnen.

Geködert durch Wetterbericht, Fernsehprogramme und Kreuzworträtsel wurde der Masse mittels redaktioneller Entscheidungen der Wille der Mächtigen implantiert, der das Gegenteil des eigentlichen Willens der Masse war. Der Masse wurde die Politik, die Kultur vorgesetzt und aufgetischt und verabreicht, die die Mächtigen in Medien und Politik dafür bestimmt hatten, und die Masse ließ wie immer alles mit sich machen, murrend, aber ohnmächtig. Hauptsache, man fütterte sie. 

Womit man sie füttert, das schluckt sie, ob es ihr nun schmeckt oder nicht. Auch die Aufmüpfigen duckten sich sofort, wenn es für sie brenzlig wurde. Die Masse wehrte sich nicht, sie konnte sich nicht wehren, sie glaubte allen Ernstes, aufgeklärt zu sein und war hörig. 

Die Redaktionen der Zeitungen und der Fernsehanstalten stellten die Wirklichkeit außerhalb ihrer Paläste immer ungenierter und unverfrorener auf den Kopf. Sie stellten die Wahrheit auf den Kopf. Sie logen und betrogen und meinten, man würde es nicht bemerken, weil man ihnen nicht zurückreden konnte. Sie waren berauscht von sich selbst und ihrem Gutgemeinten zu Lasten der ohnmächtigen Masse, sie fühlten sich allmächtig.

Schlug man eine Zeitung auf, schlug man eine Erziehungsanstalt auf. Las man einen Artikel, las man eine Hausordnung. Schaltete man ein Fernsehgerät ein, schaltete man eine Erziehungsanstalt ein. Sah man eine Nachrichtensendung, saß man in einer Unterrichtsstunde. Und das Radio war nur noch dazu da, die Ohren abzugeben.

Aber dann passierte das: Die alte Masse der Abonnenten starb nach und nach, sodass ihre Abos ausliefen, ohne dass sie gekündigt werden mussten. Die neue Generation der Kinder und Kindeskinder verstand die Sprache der alten Machtmedien nicht mehr und interessierte sich dafür immer weniger. Die neue Masse hatte ihre eigenen neuen Medien, die sogenannten sozialen Medien, ihre eigene Kultur, sogenannte Blasen. Geschichte war unbrauchbar geworden.

Die alten Medien verloren nach und nach an Reichweite und Einfluss und Bedeutung. Die Paläste wankten und bröckelten. Sie gerieten in wirtschaftliche Schwierigkeiten, sie gingen nieder – und mit ihnen die Pseudowirklichkeiten, die sie in ihrer Hybris geschaffen und propagiert und durchgeboxt haben, aber nur für eine kurze Dauer. 

Sie haben sich ihr eigenes Grab gegraben, sie wollen es noch nicht wahrhaben, aber sie warten nur noch auf ihre Beerdigung. Sie findet schon statt.

Ich sehe nicht mehr fern. Ich höre nicht mehr Radio. Ich lese keine Zeitung mehr. Mein Leben ist im Wesentlichen vorbei. Das Abo habe ich nur meiner Frau zuliebe noch nicht gekündigt, denn sie ist Frühaufsteherin und braucht ganz dringend das Sudoku. (Sucht!). 

Aber sobald ich ein geeignetes Rätselheft gefunden habe…

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Egyd Gstättner

Egyd Gstättner (* 25. Mai 1962 in Klagenfurt) ist ein österreichischer Publizist und Schriftsteller. Egyd Gstättner studierte an der Universität Klagenfurt Philosophie, Psychologie, Pädagogik und Germanistik. Schon während des Studiums begann er mit Veröffentlichungen in Zeitschriften wie manuskripte, protokolle, Literatur und Kritik oder Wiener Journal. Seit seiner Sponsion 1989 lebt er als freier Schriftsteller in Klagenfurt, wo er zahlreiche Essays u. a. für die Süddeutsche Zeitung, Die Zeit, Die Presse, Falter, Kurier und Die Furche verfasste. Besonders bekannt wurde er im Süden Österreichs mit seinen Satiren in der Kleinen Zeitung. Darüber hinaus schrieb und gestaltete er Features für die Österreichischen Radioprogramme Ö1 und Radio Kärnten sowie für den Bayerischen Rundfunk.1993 wurde er zum Dr. phil. promoviert. 1990 erschien die erste eigenständige Buchpublikation („Herder, Frauendienst“ in der „Salzburger AV Edition“). Bis 2018 wurden insgesamt 34 Bücher Gstättners bei Zsolnay, Amalthea, in der Edition Atelier und seit 2008 im Picus Verlag Wien publiziert. Seit 2016 hat er einen zweiten Wohnsitz in Wien. Gstättner ist verheiratet und hat zwei erwachsene Töchter.

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