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H.W. Valerian
Die Sache mit dem Appeasement
Essay

Was man unter „Appeasement“ zu verstehen hat, dürfte wahrscheinlich bekannt sein: Normalerweise beziehen wir uns, wenn wir den Ausdruck gebrauchen, auf die Versuche von Frankreich und England, ab 1933 einen weiteren Krieg zu verhindern, indem sie Hitler bzw. das nationalsozialistische „Dritte Reich“ beschwichtigten. Das bedeutete einerseits Wegsehen und Dulden, andererseits aber auch, den deutschen Forderungen nachzugeben.

Das Appeasement zog sich hin vom März 1935, als Hitler den Friedensvertrag von Versailles brach, indem er die Expansion der deutschen Streitmächte proklamierte, über die Besetzung des Rheinlandes 1936, die Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg (1936–39), den „Anschluss“ Österreichs (März 1938) bis zum schändlichen Münchner Abkommen vom September 1938, in dem Hitler das zur Tschechoslowakei gehörige Sudentenland geopfert wurde.

Genützt hat das alles nichts, wie wir wissen. Letztlich sahen sich England und Frankreich doch gezwungen, dem Dritten Reich den Krieg zu erklären (3. September 1939).

Der wichtigste Antrieb dieser Appeasement-Politik war ebenso makel- wie tadellos: Nie wieder Krieg! Englische und französische Politiker waren durch diesen Krieg gegangen, sie wussten nur zu genau, was sie wollten bzw. noch genauer, was sie nicht wollten. Die deutsche Führung hatte gleichfalls im Krieg gekämpft – Hitler, Göring, um nur zwei Beispiele zu nennen. Deshalb nahmen die englischen und französischen Politiker an, die Deutschen dächten genau so wie sie selbst. Aber das war ein Irrtum.

Die Deutschen trauerten dem Krieg nach, insbesondere, da sie ihn verloren hatten; bei ihnen herrschte ungebrochen der Mythos vom heldenhaften Kampf, vom Kriegshelden. Wer die Realität vor Augen führte wie etwa Erich Maria Remarque mit seinem berühmten Roman Im Westen nichts Neues, der wurde zum Schweigen gebracht.

Nun trafen diese beiden Parteien aufeinander. Aus der Logik der einen ergab sich zwingend die Konsequenz: Verhandeln, verhandeln, verhandeln. Und wenn nötig: noch einmal verhandeln. Denn da niemand einen Krieg wollte, konnte ein solcher nur aus einem Missverständnis entspringen. Es galt herauszufinden, wie der Fordernde zufriedengestellt werden konnte, ohne dass man selbst allzu viel aufgab. Diesem Willen zum Nachgeben leistete ein weiteres Motiv Vorschub, das nicht zu unterschätzen war: das schlechte Gewissen wegen des Friedensvertrages von Versailles, vor allem wegen der viel zu hohen, geradezu phantastischen Reparationszahlungen. Das schwächte die Position Englands und Frankreichs zusätzlich.

Der Forderer – um bei diesem Ausdruck zu bleiben – ging nach dem Prinzip vor: Heut’ a bisserl, morgen a bisserl. Damit waren seine Ansprüche nie so groß, dass sie einen Krieg gerechtfertigt hätten. Den stellte man sich übrigens als eine Abfolge unermesslicher Schrecken vor: Bomberflotten, die den Himmel verdunkelten und Bomben mit Giftgas auf die wehrlose Bevölkerung der gegnerischen Städte niedergehen ließen. Dagegen gab’s nach damaligem Stand der Technik praktisch keine Verteidigung.

Eindeckige, einsitzige Ganzmetall-Jagdflugzeuge, die schnell genug waren, die Bomber zu stellen, gab’s vorläufig noch nicht: Die „Hurricane“ wurde 1937 in Dienst gestellt (und die war nicht Ganzmetall), die berühmte „Spitfire“ erst 1938. Auf deutscher Seite gab’s seit 1937 die Bf 109. Bis dahin galt die berühmt-berüchtigte Regel „The bomber always gets through“.

Daraus resultierten jene apokalyptischen Vorstellungen des nächsten Krieges, wie wir sie aus der englischen Literatur kennen. Man denke bloß an die einschlägigen Passagen in George Orwells Roman Coming Up For Air (1939; deutsch: Auftauchen, um Luft zu holen). Und diese Ängste nährten ihrerseits das Appeasement.

Ich möchte hier allerdings noch einen anderen Aspekt ansprechen, und zwar aus meiner persönlichen Erfahrung. Als ehemaliger Lehrer der Altersgruppe 14–19 Jahre, mit wenigen Ausnahmen durchwegs männliche Exemplare unserer Spezies, kommen mir die Verhaltensweisen von Putin, Orban, Trump seltsam vertraut vor. Das Aufplustern des Jungmännchens, der beleidigte Trotz, die konstante Provokation, aber auch die unterschwellige Aggression – all das gehört mit zu den Verhaltensweisen besagter Kategorie von Menschen.

Natürlich gebärdeten sich nicht alle so, nicht einmal viele, sondern eigentlich nur einzelne. Aber das genügte. Sie hätten den Unterricht lahmlegen können. Sie forderten mich heraus, nicht offen, sondern stets so, dass man ihnen nicht leicht ankam, keinesfalls mit dem Gesetz. Da gingen sie zwar hart an die Grenze, wagten sich aber nie so weit vor, dass sie sich nicht schnell zurückziehen und hinter Ausreden verschanzen konnten.

Andererseits gestaltete sich die Auseinandersetzung mit dem Lehrer, mit der Autoritätsperson als Zweikampf, ganz wortwörtlich, selbst wenn dabei keine Gewalt zur Anwendung kam, ja nicht einmal kräftige Worte. Denn darauf lauerten diese Bürschchen bloß. Dann hätten sie nämlich Oberwasser gehabt.

Weswegen ich später, bereits in Pension, eben diesen wiederkehrenden Albtraum hatte: Dass ich gegenüber so einem provokanten Halbstarken die Contenance verlor, dass mir die Hand auskam. Die gebührte ihm zwar – aber ich hätte verloren.
In letzter Konsequenz spitzte sich der Kampf zu einem klassischen Duell zu, wenngleich ohne Revolver, nur mit den Augen, mit dem Willen. Es musste mir gelingen „to stare him down“, wie’s auf Englisch heißt. Glücklicherweise, so darf ich berichten, ist das stets geglückt, obwohl’s manchmal verdammt knapp war. Und was sich dann abgespielt hätte, das wage ich mir gar nicht auszumalen. Jedenfalls ging ich schweißnass und völlig erschöpft aus solchen Stunden heraus. Wieviel Sympathie ich aufbringe, wenn ich derartige Verhaltensweisen heute wahrnehme, kann man sich vielleicht vorstellen.

Die Lehren, die ich aus solchen Begegnungen zog: Erstens, eine klare Linie von Anfang an, klare Grenzen. Zweitens: Auf eine Überschreitung dieser Grenzen muss blitzschnell eine Sanktion folgen. Die braucht nicht schwer zu sein, mag bloß in einem scharfen Verweis bestehen, aber schnell muss es gehen, ohne Zögern. Und schließlich: Keiner Konfrontation aus dem Wege gehen; der erste Krach ist besser als der letzte.

Nun kann man derart vereinzelte persönliche Erfahrungen schlecht verallgemeinern. Russland und die NATO sind weder Lehrer noch halbstarke Schüler. Trotzdem kann ich, wenn ich mir das lauwarme Gerede, die ungelenken Bemühungen von Olaf Scholz, Emmanuel Macron oder gar Boris Johnson anschau’, bloß die Hände vors Gesicht schlagen. Meiner Erfahrung nach machen die alles falsch, was man nur falsch machen kann. Schlimmer noch: Sie haben bereits alles falsch gemacht!

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H.W. Valerian

H.W. Valerian (Pseudonym), geboren um 1950, lebt und arbeitet in und um Innsbruck. Studium der Anglistik/Amerikanistik und Germanistik. 35 Jahre Einsatz an der Kreidefront. Freischaffender Schriftsteller und Journalist, unter anderem für "Die Gegenwart". Mehrere Bücher. H.W. Valerian ist im August 2022 verstorben.

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Susanne Preglau

    Danke für diesen Artikel, der mich sehr zum Nachdenken gebracht hat – die Hoffnung bleibt, dass der Vergleich zwischen Putin und Hitler doch nicht angemessen sein mag.

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