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Diethard Sanders
Die Wohlstandspumpe und
die Überproduktion von Eliten
Zu Peter Turchins bedeutender Analyse
„End Times“

Seit jeher hat es strukturalistisch-zyklische Ansichten zum Gang der Geschichte gegeben, zum Teil sogar inmitten des Schoßes der jüdisch-christlichen Tradition. Steht doch schon im Buch des Predigers im Alten Testament, dass es nichts Neues unter der Sonne gibt und dass alles, was geschieht, längst schon in früheren Zeiten geschehen ist und etwas nur deshalb als neu erscheint, weil man vergessen hat, was früher geschah. Und dass diejenigen, die noch später kommen, das gerade Aktuelle auch schon wieder vergessen haben werden.

Kurzum, eine Totalabsage an den frommen Wunsch für Fernsehsendungen, dass Geschichte dazu dient, daraus zu lernen, um in Zukunft Fehler zu vermeiden.

Vermutlich aber war sich auch schon Kohelet bewusst, dass man diese Aussage zur Geschichte nur dann treffen kann, wenn man bereit ist, sich ihre von allen Äußerlichkeiten (Bekleidung, Stand der Technik, usw.) entblößte dürre Struktur anzuschauen. 

Das hat auch Oswald Spengler versucht in seinem langatmigen Werk Der Untergang des Abendlandes (erste Ausgabe 1918). Man kann sich heute die Zumutung, dass ein Autor im Jahr 1917 (Vorwort zur 1. Ausgabe) überhaupt in Erwägung zog, dass das Abendland irgendwann untergehen könnte, kaum noch vorstellen. Heute ist das, sagen wir mal, etwas konkreter vorstellbar. Und nicht einmal nur für das Abendland.

Die Frage bleibt: Wie kommt man etwas so Komplexem wie der menschlichen Geschichte bei? Es bleibt die Debatte zwischen Zyklikern (die Geschichte wiederholt sich) und Nicht-Zyklikern (die Geschichte wiederholt sich nicht). 

Was ist also zu tun?

Die Antwort: Man macht möglichst harte Wissenschaft, indem man Dokumente sichtet, die, ich möchte das hier einmal so nennen, administrativer-legislativer-organisatorischer-statistischer Natur sind: Sachen wie Steuerlisten, Körpergröße, Geburtenrate, Sterblichkeit, Eingaben aller Art an Behörden, Todesfälle, Erkrankungen, Strafanzeigen, Gerichtsverfahren, Pfändungen, Wählerverzeichnisse, Staatsverfassungen, Aufenthaltsorte, Grundverkehr, Vermögensentwicklung, landwirtschaftliche Produktion, Sozialversicherungsbeiträge usw. usw…

Nicht wenige solcher Dokumente reichen viele Jahrhunderte zurück. Bereits frühe Vertreter dieser Methode, wie etwa Tocqueville zur Französischen Revolution, kamen damit zu Ergebnissen, die manchen weitverbreiteten Ansichten diametral widersprachen.

Diesen Ansatz hat auch der heutige Komplexitätsforscher Peter Turchin und seine Forschungsgruppe gewählt, um zu Aussagen über den Verlauf der Geschichte zu gelangen. Turchin ist damit im 20. Jahrhundert keinesfalls der Erste, aber es scheint, dass diese Gruppe die weltweit vielleicht umfangreichste Datenbasis namens CrisisDB zu Größen, wie oben erwähnt, erstellt hat. . .

. . . und diese dann mit Hilfe von Computern (die Tocqueville nicht hatte) mit allen Methoden der Statistik auswertet, im Blickwinkel verschiedener Fragen: Unter welchen Parametern prosperiert eine Gesellschaft auf die Dauer von wenigstens einigen Jahrzehnten? Bei welchen Parametern besteht gute soziale Durchlässigkeit von unten nach oben und wann nicht? Bei welchen Parametern kommt es zur Häufung von politisch motivierten Gewalttaten? Bei welchen Parametern wird eine Gesellschaft anfällig für Diktatoren? Gibt es bestimmte statistisch erfassbare Konstellationen, bei denen eine Gesellschaft anfällig wird für schwere Krisen bis hin zum (Bürger-)Krieg? Gibt es typische Zeitintervalle, in denen sich solche schweren Krisen wiederholen?

Das Ergebnis von alledem ist das Buch End Times, und seine Antwort ist sehr eindeutig: Ja, die Geschichte ist zyklisch, und mehr oder weniger regelmäßig wiederkehrende schwere Krisen einschließlich Revolution und Krieg werden vor allem durch zwei Faktoren hervorgerufen. 

Zum Ersten ist das eine zu geringe Besteuerung der Reichen und eine verhältnismäßig zu hohe Belastung (Steuern, Lebenskosten) der weniger Verdienenden, also eine ungerechte Wohlstands-Pumpe von unten nach oben. Kommt das bekannt vor? Dieses Ergebnis ist inzwischen nicht mehr wirklich überraschend, aber es tut dennoch gut, es durch quantitative Resultate unterlegt zu haben, die man nicht mehr mit einer blöden Bemerkung (Es muss Unterschiede geben) vom Tisch wischen kann.

Der zweite Faktor kam, zumindest für mich, unerwartet: Jeder schweren Krise ist zusammen mit der umgekehrten Wohlstands-Pumpe eine sogenannte Überproduktion von Eliten vorausgegangen. 

Da der Staat die von ihm im Überschuss produzierte Elite letztlich nicht in ausreichender Zahl mit Stellen beziehungsweise einer adäquaten Tätigkeit versorgen kann, formieren sich mit der Zeit Gegen-Eliten, die umso wirksamer agieren, als sie zumindest über die Bildung und oft auch über die wirtschaftlichen Mittel verfügen, sich Einfluss zu verschaffen. Und sie profitieren von der liebsten Gewohnheit der Politik, nämlich Probleme liegen zu lassen.

Das wäre die Situation, in der sich (nicht nur) die USA heute befinden, so Turchin und sein Team. Und die auf statistische Analysen gestützte Chance, dass die USA bei der nächsten Wahl zu einer Diktatur werden, wird bei etwa 50% angesetzt. Darauf brauchen wir eh nicht mehr lange zu warten. 

Aber auch für den Rest der Welt kommt Turchin zum Schluss, dass die Zeichen viel eher auf Sturm denn auf Entspannung stehen. Zudem ist mit der globalen Ökokrise ein weiterer Krisenfaktor ins Spiel gekommen, den es in diesem weltumspannenden Ausmaß bisher nicht gab; hier spielen politische Grenzen keine Rolle mehr. No na, könnte man also sagen, eh klar dass die Zeiger auf ungemütlich stehen.

Turchin untermauert seine These von der Überproduktion von Eliten im Vorlauf von Revolutionen und Kriegen durch Beispiele aus der Geschichte. Während die Umgekehrte Wohlstandspumpe mit der Aussage Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer schon längst wieder zu einem Gassenhauer geworden ist, scheint die Überproduktion von Eliten dagegen ein Problem zu sein, dessen man sich vor allem auf den Universitäten offenbar nicht bewusst ist oder das zumindest kaum Resonanz findet. 

Die gesamte Entwicklung der Universitäten in Österreich, seit ich sie ab 1993 mitverfolge, ist unter anderem darauf ausgelegt, die Studierendenzahlen zu steigern. Das System Bachelor–Master–PhD ist bestens geeignet, möglichst viele graduierte Akademiker zu erzeugen. Dem gegenüber steht die ständige Klage aus weiten Teilen der Wirtschaft über den chronischen Lehrlings- und Facharbeitermangel.

Während der Ausweg aus der Umgekehrten Wohlstandspumpe recht klar erscheint (Franklin Roosevelt hat es vorgemacht: Es geht!) bleibt Turchin jedoch klare Antworten schuldig, mit welchen Maßnahmen der Überproduktion von Eliten gegengesteuert werden sollte. Etwa ein strikter numerus clausus für die Zulassung zu einem Studium? 

Wenn ich mir den ständigen Hunger der Wirtschaft nach Graduierten aus meinem Fach ansehe, dann möchte ich an diesem Werkzeug zweifeln. Oder man macht es wie im Alten Österreich, indem man eine Menge Ämter und Kompetenzen erfindet, die der damaligen vor allem adeligen Elite das Gefühl von Teilhabe vermittelten – siehe dazu in satirischer Form Fritz von Herzmanovsky-Orlando, der einen genialen k. u. k. Ämter-Erfinder abgegeben hätte.

Mein ganz bescheidener Vorschlag für österreichische Verhältnisse wäre, als Teilmaßnahme das gesellschaftliche Image einer Lehre und des Facharbeiters breitenwirksam zu heben, sprich, nicht nur mit ein paar gelegentlichen Artikeln in der (durchaus respektablen!) Zeitung der Arbeiterkammer. 

Und wenn man sich anschaut, was viele Facharbeiter dann beruflich so machen, muss man sich ohnehin fragen, wo eigentlich die Grenze zwischen Durchschnitt und Elite verläuft. Aber was über Jahrzehnte mies gemacht wurde, kann man mit ein paar netten Worten nicht gleich wieder richten.

Zuletzt sei noch erwähnt, dass die derzeitige, international wie auch national angespannte Konstellation von Turchin keineswegs als unentrinnbares Schicksal angesehen wird. Man könnte gegensteuern, aber die Frage ist natürlich, ob das auch rechtzeitig und ausreichend geschehen wird. Siehe Munition für die Ukraine! Klingt eigentlich genau so, wie wenn es um die globale Ökokrise geht: Man könnte gegensteuern, wenn man denn nur wollte.

Schaut man sich zumindest die derzeit drängendsten, umfassendsten globalen Krisen an, dann teilen sie alle die Eigenschaft, dass sie auf Probleme zurückzuführen sind, die so lange liegen gelassen und über die hinweg geredet wurde und noch wird, bis sie unweigerlich in der Katharsis einer echten schweren Krise landen – und man nach viel Leid, Blut und Tränen genügend ausgenüchtert ist, um sich vorübergehend den Anschein halbwegs vernünftiger Wesen zu geben.

Zurück zu Turchin. Sein Buch ist schon deshalb lesenswert, weil es sich nicht in Psychologie und nicht in Mutmaßungen über die Zukunft verliert, sondern im Wesentlichen die Ergebnisse statistischer Analysen präsentiert und daraus abgeleitet Wahrscheinlichkeiten und nicht behauptete Wahrheiten präsentiert. Sicherlich ein nicht alltägliches Geschichtsbuch.

Peter Turchin: End Times (2023), Penguin Books, 352 pp. 1. Edition (7. März 2024). Taschenbuch ‏ : ‎ 368 Seiten. ISBN-13 ‏ : ‎ 978-0141999289. Euro 10,27 

Für Interessenten: Das Buch ist bisher nur auf Englisch erschienen!

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Diethard Sanders

Diethard Sanders, alias Corvus Kowenzl, kam am 18. Februar 1960 in Hall in Tirol zur Welt und wuchs in Innsbruck auf. Erste Schreibversuche ab 12 Jahren. Der Matura an der HTL für Hochbau in Innsbruck folgten Jahre eines selbstfinanzierten Lebens und Studiums der Geologie an der Uni Innsbruck. Nach einem Doktorats-Studium an der ETH Zürich im Jahr 1994 Rückkehr an die Uni Innsbruck, wo ich mich im Jahr 2000 habilitierte. Trotz der universitären Tätigkeit nie damit aufgehört, vor allem des Nachts Bücher zu lesen, die wenig bis gar nichts mit Geologie zu tun haben.

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