Corvus Kowenzl
Die einzig Mögliche
Ostalpenländische Universitätssatiren
Folge 3

Folgende bescheidene Zeilen präsentieren einige der markantesten Erinnerungen meines Berufslebens als Lehrer und Forscher an einer Universität mitten in den Ostalpen, im Lande des Grüß Gott. Die meisten dieser Erinnerungen stammen aus meiner Zeit als Leiter eines Instituts, jedoch war diese Position nicht in jedem Fall ausschlaggebend, sondern ganz einfach die Tatsache, dass ich ein Angehöriger der Universität bin.


Der geneigte Leser oder die geneigte Leserin wird vielleicht annehmen, dass das vorher beschriebene Fredl-Mari Schattenkabinett ausreicht, einem Institutsleiter den nötigen Unterbau zu geben, um mit unumschränkter Macht zu walten. Falsch! Denn so unverzichtbar der Fredl am Radl und die Nirvana-Mari auch sind, so sind beide doch auf hierarchischen Ebenen angesiedelt, die mit den sumpfigen, intrigenverseuchten Niederungen eines Instituts-Alltags wenig gemein haben. Um wirklich von oben nach unten durchregieren zu können, benötigt der moderne Institutsleiter . . . .

. . . genau, er benötigt eine/n Sekretär/in, heute korrekt Instituts-ReferentIn genannt, und in 99.9% der Fälle auch heute noch eine Frau. Sagen wir es ganz knapp, hart und offen: ohne sie ist der Institutsleiter nichts, wenigstens auf die Dauer. Glücklicherweise ist – ebenfalls wenigstens auf die Dauer – auch die Instituts-Referentin ohne den Leiter nichts: es handelt sich also um eine Art von Symbiose.

Daran wäre nichts auszusetzen, könnten die Symbionten einander aussuchen. Doch dem ist nicht so. Die Biologie hat für diesen Zustand erzwungenen gemeinschaftlichen Zusammenwirkens immer noch kein Wort geschaffen. Im schlimmsten Fall wird ein Typ Institutsleiter, den die Referentin schon immer für eine inkompetente unsympathische Krätze hielt und umgekehrt. Zwar hat der Institutsleiter laut dem Buchstaben des Gesetzes die Macht, die Referentin zu kündigen, doch diese Macht ist ebenso theoretisch wie die der Stadtwache von San Marino gegenüber der Luftwaffe der Vereinigten Staaten.

Im Realfall müsste der Leiter sich auf eine via dolorosa einlassen, die so viel Zeit verschlingt, dass seine Karriere ruiniert wäre, und er dann gleich zusammen mit der Referentin abtreten könnte – wobei nicht ausgemacht ist, ob sie dann doch bleibt und nur ER geht.

Bei derartig ungleicher Verteilung der faktischen Macht ist es also für den Leiter angeraten, sich ein wenig mit der Psychologie der Referentinnen auseinanderzusetzen, bevor er sich zur Ausübung seiner Macht anschickt. Es folgt ein kleiner Einführungs-Kurs.


Die Leidende:

Trifft man sie morgens im Lift, wirkt sie gleich auf den ersten Blick unausgeschlafen, leidend und verdrossen. Die Arme, denkt man sich, die hat wohl einen anderen Biorhythmus; vielleicht ist sie so eine, die erst ab Mittag richtig wach wird; und der Institutsleiter, dieser rücksichtlose Kerl, besteht darauf, dass sie um 9.00 Uhr im Büro sitzt. 

Betritt man aber nachmittags ihr Büro, wirkt sie immer noch leidend und verdrossen. Wie geprügelt sitzt sie da auf ihrer Folterbank vor dem Computer. Wann hört das je auf? Jetzt tut sie mir noch mehr leid. Ich spitze den Mund und beuge mich leicht vor:

„Äh, da war ein Student von Ihrem Institut auf einer meiner Vorlesungen, es ist mir nicht möglich, die Note online einzugeben (immerhin handelt es sich um eine andere Studienrichtung, da könnte ja jeder so wild transdisziplinär durch die Gegend studieren . . . und überhaupt), könnte ich Sie vielleicht fragen, ob Sie das freundlicherweise machen könnten, ich hab die Daten dabei.“

Sie schaut mich an. Was sage ich. SIE SCHAUT MICH AN: Ecce homo! Oh, hätte ich das doch besser nicht gesagt! Was habe ich jetzt nur angerichtet mit dieser armen Kreatur, ich brutaler Zoch! Was musste ich denn das auch so direkt sagen, so mit der Tür ins Haus fallen? Hätte ich da nicht ein wenig mehr Fingerspitzengefühl zeigen müssen? Vielleicht hätte ich eine Email schreiben sollen, in der ich mein Vorhaben ausführlich erkläre, bevor ich selber aufs Institut komme?

Wie ein ertappter Schulbub versuche ich, den fauxpas wieder auszuwetzen:
„Ach so, na dann . . . also eventuell vielleicht potentiell später. . . ich wusste nicht, dass es momentan so. . . also, so . . . tja . . . tut mir echt leid. . .“

Mit kleinen Schritten rückwärts gehend komplimentiere ich mich selbst aus dem Sekretariat hinaus. Wenn jetzt nur nicht noch was Schlimmes geschieht.


Die Unzuständige:

Trifft man sie morgens im Lift, wirkt sie auf den ersten Blick etwas profillos, also weder unausgeschlafen noch sonderlich tatendurstig, weder schlecht gelaunt noch gut aufgelegt, kurzum: gewissermaßen neutral. Und das Neutralitätsprinzip scheint überhaupt ihre oberste Maxime zu sein. Spielen wir also erneut den Testfall wie oben durch.

Ich betrete das Sekretariat. Sie sitzt vor dem Computer, auf dem Bildschirm prangen schlanke Damenbeine in dunklen Nylons, Abschluss am Oberschenkel mit Spitzensaum. Sie, äh, scheint gerade Unterwäsche zu suchen.

„Grüß Gott“, ich. Sie schaut noch einige Sekunden auf die Nylonstrümpfe, dann erst reißt sie sich los und wendet sich zu mir hin, ohne aber die Internet-Seite mit den Strümpfen weg zu klicken.

„Grüß Gott“, sie lächelt gewinnend.
Ich trage mein Anliegen vor:
„Also, da war ein Student von ihrem Institut auf einer meiner Vorlesungen, es ist mir nicht möglich, die Note online einzugeben (immerhin handelt es sich um eine andere Studienrichtung, da könnte ja jeder etc. etc.), könnte ich vielleicht sie fragen, ob sie das freundlicherweise machen könnten, ich hab die Daten dabei.“

Sie schaut mich an, mit großen Augen, die Lippen leicht geöffnet, und sagt erstmal nichts. Dann endlich:
„Sie wollen was?“ Sie betont das „was“ so, als hätte ich soeben einen eher exotischen sexuellen Wunsch bei ihr deponiert.
Ich wiederhole mein Anliegen. Erneut schaut sie mich nur an.

Dann:
„Für solche Sachen bin ich nicht zuständig.“
Es entsteht eine Pause. Das hätte ich nicht erwartet. Endlich fasse ich mich:
„Und wer ist dafür zuständig?“
Wieder schaut sie mich mit großen Augen an, zuckt die Achseln:
„Das kann ich nicht wissen, wissen sie?“


Cruella de Vil:

Trifft man sie morgens im Lift wirkt sie auf den ersten Blick unauffällig. Ruhig steht sie da. Mit zunehmender Dauer der Liftfahrt – es ruckelt ja immer etwas – bemerkt man ihre Körperspannung, die steife Oberlippe und den geradeaus fixierten Blick.

Wenn jemand zusteigt, entfährt ihr kein verwaschenes „Mor’n“, keine Reaktion. Hat sie ihr Stockwerk erreicht, steigt sie zackig und grußlos aus. Erneut der Testfall. Ich betrete das Sekretariat. Sofort ein strenger Blick von ihr zu mir.
„Grüß Gott“, ich.“Grrrüßß Gotttt!“ scharf zurück sie, mich fixierend. Ich muss kurz einen Drang unterdrücken die Haken zusammenzuschlagen. Ich trrrete näher.

„Da war ein Student von ihrem Institut auf einer meiner Vorlesungen, es ist mir nicht möglich, die Note online einzugeben (immerhin handelt es sich um eine andere Studienrichtung etc. etc.), könnte ich vielleicht sie fragen, ob sie das freundlicherweise machen könnten, ich hab die Daten dabei.“

„Haben sie das im BLISS:online schon versucht?“ ihre Gegenfrage, mich scharf über den Rand ihrer Brille fixierend.
„Ja, natürlich, dort ist es ja nicht gegangen,“ ich.
„Dann hätten sie das auch direkt übers Prüfungsreferat leiten können!“ sie sogleich.
„Ah, das geht? Das wusste ich nicht. Wie geht das?“ meine Antwort.
„Wenn man sich ein wenig Mühe gibt mit der Eintragung der Lehrveranstaltungs-Beurteilungen dann weiss man das“, ihre etwas freche und etwas kryptische Antwort.

„Na schön“, ich versöhnlich, „also, wie geht das?“
„Sie gehen aufs Prüfungsreferat Naturwissenschaften und teilen denen dort die Note mit. Selbstverständlich mit ausgedrucktem und unterschriebenen Formular, denn sonst ist’s ungültig“, ihre schmallippige Antwort.
Ich bin nun etwas entrüstet:
„Ah so, zu Fuß sozusagen, na das ist ja kein großes Geheimnis, ich dachte, es gäbe noch einen anderen Intranet-Zugang zur Prüfungseingabe.“Sie mustert mich von oben bis unten mit abfälligem Blick und sagt:
„Den gibt es auch, aber nur für Leute vom Studiendekan aufwärts“.

Jetzt sind wir beim Kern der Sache angelangt. Ist ja auch eine Beleidigung, dass ausgerechnet sie, Cruella de Vil, die zu so viel Höherem berufen wäre, sich mit den nichtigen Anliegen eines kleinen Institutsleiters rumschlagen muss, also bitte sehr!

Ich bleibe ganz ruhig stehen. Das mache ich in solchen Situationen immer. Meistens hilft es.
Sie wendet sich wieder ihrem Bildschirm zu mit einer Gestik, die besagt, Ich hab hier Wichtigeres zu tun. Sie überfliegt sichtlich den Bildschirm.
Ich bleibe stehen. Als sie bemerkt, dass ich so leicht nicht verschwinde, wendet sie sich wieder zu mir:
„Also was jetzt?“, sie.
„Könnten wir diese Note nicht doch hier bei ihnen eingeben, es wäre wohl der einfachste Weg, die Sache zu erledigen?“

Wieder mustert sie mich. Ich fühle mich ein bisschen wie der legendäre Inspektor Columbo, der immer tolpatschig und etwas desorientiert wirkt, aber am Ende jedes Mal erreicht, was er will. Ich spüre, wie ihre Stimmung kippt.
„Na schön, geben sie hier!“ ihr scharfer Befehl.
Ich trete näher und gebe ihr den Zettel mit den Daten und bleibe stehen. Sie rückt ein wenig ab von mir und befiehlt:
„Sie brauchen hier nicht rumzustehen, das erledige ich hier und jetzt auf der Stelle augenblicklich sofort gleich, auf Wiederschaun.“
„Äh, ja, danke. . . dann auf Wiederschaun.“ und draussen bin ich.

Der arme Leiter dieses Instituts, geht mir durch den Kopf. Vermutlich ein angewachsenes Zwergmännchen, das irgendwo an ihr rumpendelt. Wenn sie ihn nicht schon aufgefressen hat. Aber kompetent ist sie, das muss man ihr lassen.


Und schliesslich SIE, die einzig mögliche Sekretärin:

Trifft man sie morgens im Lift, findet man sie oft im gackernden small talk mit den anderen Liftinsassen. Sie verpasst leicht das Stockwerk, wo sie aussteigen muss, weil sie gerade lacht. Macht nix, Knöpfchen drücken, zweiter Versuch.

Während sie durch das Institut zu ihrem Büro geht – geschätzte 50 Meter – nimmt sie auch gleich die Post mit, scherzt mit einem seit grauer Vorzeit pensionierten Professor vom Typ Gespenst und redet ihm gut zu, hilft einer Studentin, etwas Sperriges durch die Tür zu bringen und fängt den ihr unvorsichtigerweise begegnenden Institutsleiter sofort ab, um ihn zu einer Unterschrift ins Sekretariat zu nötigen und ihm noch am Weg dorthin eine komplizierte und wie immer unklare Rechtslage wegen einer Laborabrechnung zu schildern und sich auch gleich mit ihm zu beraten wegen der kommenden Weihnachtsfeier.

Wenn sie das Sekretariat schließlich erreicht hat, ist sie aufgelöst, der Leiter leistet leicht betäubt widerstandslos die verlangte Unterschrift und wankt verwirrt zu seinem Büro zurück.

Es ist die Sekretärin, mit der ich in Symbiose lebe!

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Diethard Sanders

Diethard Sanders, alias Corvus Kowenzl, kam am 18. Februar 1960 in Hall in Tirol zur Welt und wuchs in Innsbruck auf. Erste Schreibversuche ab 12 Jahren. Der Matura an der HTL für Hochbau in Innsbruck folgten Jahre eines selbstfinanzierten Lebens und Studiums der Geologie an der Uni Innsbruck. Nach einem Doktorats-Studium an der ETH Zürich im Jahr 1994 Rückkehr an die Uni Innsbruck, wo ich mich im Jahr 2000 habilitierte. Trotz der universitären Tätigkeit nie damit aufgehört, vor allem des Nachts Bücher zu lesen, die wenig bis gar nichts mit Geologie zu tun haben.

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