Christoph Themessl
Worte auf der Waagschale
Dem freien Wort (der Literatur) droht
indirekt die Zensur.
Notizen
Es gibt eine krankhafte Form der übersteigerten intellektuellen Gewissenhaftigkeit, die mundtot macht und auf einem falschen Verständnis von Sprache beruht – als ob diese ein geschlossenes, objektives Zeichensystem abseits des Sprechers oder Schreibers wäre und nicht vielmehr wandelbar rund um einen seinerseits wandelbaren, inneren Sinn der jeweiligen individuellen Person, die spricht oder schreibt.
Im Unterschied zum Ideologen oder Wissenschaftler, die vorgegebenen Begriffen folgen, kleiden SchriftstellerInnen die Impressionen in freie, selbstgewählte Worte – sofern sie sich nicht vollständig vom Wörterbuch (Duden) vereinnahmen haben lassen.
Wer den inneren Sinn des Sprechers verstehen will, muss Dialekt verstehen und darüber hinaus verschiedenste Nuancen zu differenzieren wissen, da jeder Mensch eine eigene Sprache spricht, heißt, seine eigenen Bedeutungen, Auslegungen für die allgemeinen, im Gebrauch stehenden Zeichen (Worte) entwickelt hat.
Mit Meta- und Standard-Wissenschaftssprachen und allen Arten erfundener Plan- und Kunstsprachen, darunter Computerlinguistik und Chomskys generativer Transformationsgrammatik (die eine Rückübersetzung des individuellen sprachlichen Ausdrucks in einen angeblich ursprünglich gemeinsamen, biologisch-geistig gegebenen Ur-Körper von Sprachen anstrebt) – mit all diesen Cartesianischen Naturfeindschaften und Kriegserklärungen gegen das Individuum ist für das Verständnis des inneren Sinnes, der individuellen Wortbedeutung nicht viel zu erreichen.
Bestenfalls ein weiteres Vorurteil gegen den Sprechenden. Als verstünde man einen sizilianischen Bauern im Italienisch der Römer oder Mailänder! Es ist übrigens Italien unter anderem bis heute deshalb ein so interessantes Land, weil seine Bewohner selbst zugeben, sich bisweilen untereinander schwer zu verstehen. Das hat mit der Geschichte des Landes der eintausend Dialekte zu tun.
Ich führe das hier nur aus, weil ich immer wieder den Eindruck habe, dass ausgerechnet die anspruchsvollere Literatur (eingeschlossen Romane, Artikel, Essays) sich zunehmend in einer überflüssigen Pseudo-Objektivität, will heißen, im Anspruch, die Welt zu verstehen, wie sie an sich sei, verliert – und sich damit in einem selbst zum Verstummen bringt. Dasselbe – und vielleicht noch drastischer – würde für die Alltagskommunikation gelten.
Auch heute ist leider immer noch (oder wieder?) die Vorstellung weit verbreitet, dass es in unserem Gehirn irgendwo eine Zone des (objektiven) Bewusstseins gibt – der Traum aller Aufklärer – und daneben noch die menschliche Sprache, welche diesem Bewusstsein als Ausdrucksmöglichkeit dient. Schön sprechen, damit der menschliche Geist nicht beleidigt ist! Aber das stimmt nicht.
So wie Lesen und Schreiben und Beherrschung des Einmaleins das Tor zu jeder Art von Bildung sind, so sind unsere Sprache und unser Bewusstsein mehr oder weniger in eins zu setzen und von der Erfahrung abhängig. Die Höhe oder Spezifikation der erlernten Sprachbefähigung ist gleich der Höhe oder Spezifikation des Bewusstseins.
Wofür es keine Worte gibt, dafür gibt es kein konkretes Bewusstsein, nur ein sehr diffuses. Angeborene Charaktereigenschaften mögen eines Tages genetisch erklärbar sein, ein angeborener, göttlicher Geist, der dem Descartes sein Ich denke, also bin ich… eingab, bleibt hingegen eine scholastische Phantasie.
Wir benötigen ja auch gar kein souveränes Ich, das sich als Übersetzer des Wahren selber setzt. Wir brauchen keine Wahrheit (da sie dem Menschen nicht zugänglich ist), und wir brauchen keinen absoluten Geist und keine göttliche Ratio und keine platonischen Ideen und mathematischen Schablonen und Hoch- und Standardsprachen, die selbstgefällig die Grenzen des Verständnisses ziehen.
Um Scheindiskussionen und Missverständnisse zu verhindern brauchen wir gegenseitiges Eintauchen in den individuellen Dialekt des sprachlichen Bewusstseins. Das ist Individualismus und Humanismus, lebendige Kommunikation und literarischer Impressionismus in einem.
Der Rest sind Schablonen, Formeln und Paragraphen; was einmal ein Schriftsteller war, der lässt sich von solchen nicht das Wort verbieten.
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