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Christoph Themessl
We Are the Champions!
Philosophie in der Praxis


Im Zusammenhang mit Corona wurde schon öfter die Metapher des Brennglases bemüht, welches bestehende Probleme akut entzündet und deutlich sichtbar macht. So gesehen darf man die bestehende Pandemie (die nun hoffentlich bald zu Ende geht) mit einem klassischen Wort des ganzheitlichen Denkens auch als „Chance“ verstehen, Dinge in Zukunft besser zu machen und problematische Entwicklungen zu korrigieren.

Eines dieser Probleme ist die moderne Vereinsamung. Dass wir immer mehr zu Hause bleiben, um per PC in virtuelle Welten abzutauchen, im Bett oder am Couchtisch dank Internet Termine verwalten und Büroarbeiten erledigen, gab es schon vor dem verordneten oder empfohlenen Home-Office. Unsere Küchen wurden immer größer und die Sehnsucht nach privater, familiärer Gemütlichkeit immer egoistischer, das heißt nicht von einem eigentlichen Gemeinschaftssinn, sondern von einem Absonderungsbedürfnis getragen. Ein neues Biedermeier, das an unsere Hauswände anklopfen würde – die hysterischen Sommerurlaubszeiten und ein manischer Städtetourismus via Billigairlines mochten darüber hinwegtäuschen –, lag schon lange vor Corona in der Luft.

Österreich ist ein Staat von Singles. Zwar sind uns die Schweizer, wo 36% der rund 3,8 Millionen privaten Haushalte von Alleinstehenden bewohnt werden, in der Einsamkeit noch voraus, doch auch in Österreich leben 1,7 Millionen Menschen ohne festen Partner, 32% bezeichneten sich laut Umfrage der Online-Partneragentur „Elite Partner“ von 2018 sowie einer jüngsten Studie vom Jänner 2022 zufolge als Single. 80% der Alleinstehenden sehnen sich nach eigenen Angaben nach einer Beziehung. Das war vor, während und wird nach Corona so sein.

Das Dasein von Alleinstehenden muss nicht zwangsläufig traurig sein, und doch kommt man kaum umhin, die Zahlen als symptomatisch für eine Gesellschaft zu betrachten, welcher der Gemeinschaftsgeist und sinnvoller öffentlicher, von Kultur getragener Raum zunehmend abhandenkommen. Mit „sinnvoll“ sind selbstverständlich nicht Skipisten, Almhütten und lärmende Großraumbars gemeint. Das sind teure Freizeiteinrichtungen. Auch nicht die durchbetonierten Plätze der Shoppingmeilen, wo die Kaffeehausbetreiber der Kundschaft auflauern.

Eher Parkbänke, liebevolle Brunnenanlagen, kleinere, nicht-naturentfremdete Plätze mit Begegnungsmöglichkeiten. Das Problem ist altbekannt und nach wie vor ungelöst. Es gibt ein verpöntes Wort namens „Geist“.

Die Wissenschaft hasst es, die Philosophen und die Psychologen meiden es, und die „aufgeklärten“ Menschen lachen darüber. Man kann „Geist“ nicht messen und nicht testen und nicht sehen, und doch steht er oft genug „zwischen den Zeilen“, oder wir finden ihn in einer ästhetischen Darbietung oder in einer „guten Portion Humor“. Ich behaupte völlig anti-wissenschaftlich und „unaufgeklärt“ und zugebener Maßen nicht im Sinne des Kapitalismus, dass uns nur die Berücksichtigung dieses Faktors „X“ (wollen wir das Unbegreifliche einmal so nennen) aus einer großen Krise retten kann.

Der gemeinsame (gesellschaftliche) Besuch von Kulturveranstaltungen etwa weckt völlig andere „Geister“ (schon wieder das ungeliebte Wort) als dröhnende Konzerthallen. Auch Marktbesucher oder Schnäppchenjäger am Bazar unterscheiden sich wesentlich von den Massen in einem reklameüberfluteten Kaufhaus. Massen werden von uns als Bedrohung empfunden, da wir gewöhnlich keine gemeinsame Inspiration mit ihnen teilen. Anders nach dem Kino, dem Konzert oder der Vernissage und in der kleinen Bar, in der wir hernach Eindrücke teilen.

Selbst wenn uns die Veranstaltung nicht gefallen hat und wir über dies oder jenes sogar verärgert nach Hause gehen – wir sind in einen kulturellen, sozialen Körper eingetaucht und haben eine gemeinsame Erfahrung gemacht (die keineswegs dieselbe sein muss). Wir sind nicht allein gewesen und gehen auch nicht alleine nach Hause. Das bewirkt ein Lebensgefühl, das immer mehr Menschen zu verlieren drohen. Fernsehen schauen können auch Voyeure, als Teil eines öffentlichen Publikums kommen diese aber nur schwer auf ihre Kosten.

Einer unserer neueren österreichischen Philosophen, Robert Pfaller, wird in seinen Werken schon seit zwei Jahren nicht müde, die Wichtigkeit des „Mitspielens in und mit der Gesellschaft“ zu betonen. Pfaller bezeichnet (oder bezeichnete vor Corona) die Erwachsenenwelt als infantil geworden, da immer mehr Erwachsene wie kleine Kinder keine gesellschaftlichen Regeln mehr akzeptieren und nur auf Befriedigung ihrer persönlichen Bedürfnisse aus sind.

Er schließt sich hier in etwa den Befunden des US-Soziologen Richard Sennett an, der schon in den 1970-ern in seinem Werk „Verfall und Ende des öffentlichen Lebens“ vor der Tyrannei einer anonymen Gesellschaft und ihres falsch verstandenen Individualismus-Begriffes gewarnt hat.

Die Postulierung unserer individuellen Rechte macht uns zu „Spielverderbern“, verunmöglicht eine Gesellschaft im kulturellen Sinn, die auch aus Rücksichtnahmen und Höflichkeiten, Formalitäten und Vorwänden, charmanten kleinen Ausreden und Notlügen (die nicht um jeden Preis mit der so genannten „Wahrheit“ verletzen wollen) bestehen mag.

Der gezüchtete Hass auf alles, was nicht direkt aus dem Bauch oder dem aktuellen Hormonspiegel des Subjektes spricht, mag gegen eine moralisch verlogene Gesellschaft berechtigt erscheinen. Aber man hat das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Das Ergebnis war zum einen: Verrohung der Sitten, Triumph des Proleten, kapitalistische Ausbeutung. Zum anderen (als Art Schutzmechanismen): spießige Egozentrik, eine „Das bin ich mir wert-Mentalität“, Nerd-Eitelkeit u.a.

Als philosophischer Praktiker habe ich es zwar mit keinen wie auch immer gearteten „pathologischen Fällen“ zu tun, aber immerhin mit Menschen, die den Sinn in ihrem Leben vermissen. Meist sind sie einsam oder fühlen sich aus unterschiedlichen Gründen einsam und suchen das Gespräch. Sich im „Spiel des Mitspielens“ zu üben, könnte nach Corona für viele Menschen zu einer echten Herausforderung werden.

Angenommen, das Virus wäre morgen „ausgerottet“, dennoch würde es bei dem gegenwärtigen Zustand unserer Gesellschaft immer noch – sagen wir ein Jahr – benötigen, um all diejenigen, welche die ansteckende Krankheit nur als Vorwand gebrauchten, um ihre „Ruhe“ zu haben, wieder aus ihren eigenen vier Wänden hervorzulocken. Es wäre für nicht Wenige, die sich ihr gutes, gemeinschaftliches Gewissen seit geraumer Zeit nur noch aus der Nase ziehen lassen, fast eine Tragödie, wenn es von heute auf morgen keiner Tests, keiner Impfungen, keiner Masken und dergleichen Widrigkeiten mehr bedürfte, und vor allem, wenn kein Lockdown, in welchem sie sich am sichersten fühlten, in Aussicht stünde, mit einem Wort, wenn man ihnen das Alibi entzöge, guten Gewissens zu Hause zu bleiben.

Corona hat uns eine Aus- und Bedenkzeit vergönnt. Nun sind alle dazu aufgefordert, die Chance zu einem Neustart zu ergreifen. Denn in einem Punkt muss man den Gesellschaftsverweigerern, Soziophobikern und Super-Individualisten indirekt auch Recht geben: Eine Gesellschaft, die dort anschlösse, wo sie vor Corona stand, wäre von vornherein eine Enttäuschung und es lohnte sich das „Üben im Mitspielen“ dann keineswegs.

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Christoph Themessl

Christoph Themessl, Dr., geb. 1967 in Innsbruck, ist Schriftsteller, Philosoph und Journalist. Er arbeitete für zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften und war mit seiner Firma PR-Zeitungen Themessl als Magazin-Produzent fünfzehn Jahre lang selbständig. Zu seinen Publikationen zählen: „Der Tod kann warten“ (Roman; 1997), „Bewusstsein und Mängelerkenntnis; Philosophische Psychologie für die Praxis“ (studia Verlag, 2013), „Als die Seele denken lernte“ (studia Verlag, 2016) und „Sinn- und Sinnlosigkeit. Die Entscheidung des philosophischen Praktikers“ (LIT Verlag, 2021). Themessl betreibt in Lans eine philosophische Praxis namens „Safe House – das Sorgendepot“ und arbeitet in der Behindertenhilfe des Landes Tirol.

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