Christoph Themessl
Der Umdenkprozess
Die Menschheit und das Falsifikationsproblem
Essay
Dauerhaften Frieden wird es auf der Welt erst geben, wenn die Wahrheit, dass wir die Wahrheit nicht kennen können, alle Glieder aller Gesellschaften durchdrungen hat. Die Rede soll hier nicht vom Agnostizismus im Allgemeinen, sondern vom Falsifikationstheorem Karl Poppers sein.
Die Aussage, dass es keine Wahrheit gäbe, enthält nicht nur einen scheinbaren Widerspruch (denn sie behauptet ja auf den ersten Blick, selber wahr zu sein), sondern sie stößt auch seit jeher den meisten Idealisten, Künstlern, Religiösen und Wissenschaftlern sauer auf.
Menschen sind aus unterschiedlichen Gründen fast versessen darauf, dass irgendetwas – zumeist ihre eigenen Ansichten oder Theorien – wahr sein müsse. Dabei könnten wir alle davon profitieren, wenn wir statt Wahrheiten Falsches herauszufinden suchten.
Die Geschichte des Falsifikationstheorems ist im weitesten Sinn fast so alt wie die Philosophie selbst und lässt sich hier nur kurz paraphrasieren. Man kann sie beginnen lassen mit dem berühmten – von Platon ihm zugeschriebenen – Ausspruch des Sokrates: „Ich weiß, dass ich nicht weiß“. Sie führt auf jeden Fall über I. Kants Abstraktionskünste in seinem Hauptwerk „Kritik der reinen Vernunft“, in welcher der Königsberger Philosoph Raum und Zeit nicht als objektive Dimensionen „an sich“, sondern als a priori (vor jeder Erfahrung) gegebene Bedingungen der Wahrnehmung erkannte. Wir können die „Dinge an sich“ nicht kennen, sondern nehmen sie je nach Beschaffenheit unseres Erkenntnisapparates wahr.
Die so genannte „Wiener Schule“ (ein Kreis von positivistischen Denkern, die nur „Messbares“ gelten lassen wollten), die Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts und die Phänomenologie eines Husserl, die nur „intentionale Objekte“, welche sich das Subjekt mehr oder weniger selbst bildet, kannte, laufen im Grunde – bei allen Diversitäten und Streitpunkten – alle auf dasselbe hinaus: Wir müssen uns bescheiden auf einfache Daten, von Menschen gemachte Sätze. Dogmen der Allwissenheit sind zu meiden.
Dass die „Geschichte des Falsifikationstheorems“ eine so auffällig große Lücke weit in die Neuzeit hinein aufweist, liegt zweifellos an der Dogmatik der monotheistischen Religionen, welche die Kriterien für das Wahre mit aller Macht bis ins 19. Jahrhundert hinein für sich beanspruchten. Der „Tod Gottes“, wie Friedrich Nietzsche meinte, war schließlich der große „Gamechanger“, um in der Sprache der Zeit zu sprechen. Er war nach der Verabschiedung des geozentrischen Weltbildes im Zuge der Renaissance der Paradigmenwechsel schlechthin: der Abschied von der „Wahrheit an sich“.
Das eigentliche Falsifikationstheorem, wie es Karl Popper ausformulierte, lag schon lange in der „wissenschaftlichen Luft“ der vorletzten Jahrhundertwende (August Weismann, Einstein, Victor Kraft) und war in der Deutlichkeit seiner Forderung doch neu: Wissenschaftliche Theorien müssen falsifizierbar, widerlegbar sein.
Zu diesem Zweck müssen sie eine Prognose abgeben können und Versuche wiederholbar sein. Das ist schwerer als es klingt und eigentlich nur mithilfe der Mathematik möglich.
Lebendige Prozesse sind in stetem Wandel, so dass Wissenschaften, die es mit Organismen zu tun haben, bei der Forderung der Wiederholbarkeit von Experimenten sofort auf natürliche Widerstände stoßen. Alles Organische widerstrebt einer eindeutigen Klassifizierung und Authentizität bzw. Wiederholung seiner Erscheinung. Physikalische Mechanismen und astronomische Erscheinungen machen es uns leichter, auf ein Gesetz zu stoßen.
Bevorstehende Sonnenfinsternisse wurden schon vom griechischen Mathematiker Thales von Milet richtig prognostiziert, und spätestens seit Isaac Newton wissen wir, dass die Schwerkraft die Dinge auf Erden verlässlich zu Boden zieht.
Schwieriger bis unmöglich wird es mit exakten Voraussagen in der Medizin, Psychologie, Soziologie, in Wirtschafts- und Politikwissenschaften, weshalb diese Disziplinen im Verständnis des Falsifikationstheorems sozusagen nur „relativ wissenschaftlich“ sind.
Es sind Erfahrungswissenschaften, die aufbauend auf Empirie, weitere Entwicklungen mit einiger Wahrscheinlichkeit – ohne dabei aber über ein zwingendes, rationales Gesetz zu verfügen – beschreiben können.
So ein Falsifikationstheorem kränkt natürlich leicht den Stolz des Forschers und kann für definitive Beweisführung und zur Erlangung von Fördergeldern äußerst lästig sein. Zum Beispiel in der Zellforschung kann man ein Lied davon singen, wie schwer die Rekonstruktion einst erfolgreicher Experimente ist.
Karl Popper wollte aber auf etwas Anderes hinaus. Er hatte den Wahnsinn des Nazizeitalters erlebt, als historizistische, medizinisch-biologistische, rassistische, sozialdarwinistische Pseudotheorien und Ideologien das Tor zur Hölle auf Erden öffneten.
Über ein Dutzend der in Wien lebenden jüdischen Poppers ließ im Holocaust des Deutschen Reiches das Leben, während der Philosoph in England und Neuseeland überlebte und sein Hauptwerk „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ schrieb.
Ein Inferno der Dummheit, das auf Verblendung und Pseudokenntnissen beruht, kann (zumal nach dem „Tod Gottes“) nur durch einen kritischen Rationalismus, wie Popper ihn mitbegründete, verhindert werden; es bedarf für das so genannte „Wahre“ nun strenger, logischer Kriterien.
Jedem steht jeder Glaube offen und der Schöpfungskraft und der Liebe mögen keine Grenzen gesetzt sein, man möge aber nicht Worte wie „wissen“, „wahr“, „bewiesen“ leichtfertig in den Mund nehmen oder auch sonst nur so tun, als ob etwas schon wissenschaftlich sei, solange es sich im Stadium des Hypothetischen befindet.
Hypothesenbildung („Versuch und Irrtum“) gehört zur wissenschaftlichen Arbeit, aber das Allermeiste bleibt auch Hypothese und darf der Allgemeinheit nicht als Wissen „verkauft“ werden.
Diejenigen, die das aus unterschiedlichen Gründen nicht wahrhaben wollen, waren für Karl Popper die „Feinde der offenen Gesellschaft“. Feinde der offenen Gesellschaft stellen Spekulatives als Wissen und Wahrheit dar und erlangen durch Blendwerk Macht über die „Unwissenden“. Das Unwissen besteht darin, über die Unwissenheit der Blender nicht Bescheid zu wissen.
Corona hat vielleicht manchem die Augen geöffnet, wie groß das Dunkel bisweilen ist, in dem die Wissenschaft tappt. Gute Forscher stehen zur Relativität ihres Wissens, schlechte Wissenschaftler lassen sich und ihre Disziplin von den „Unwissenden“ vergöttern und verhindern so den längst fällig gewordenen Umdenkprozess einer individuellen Freiheit des Intellekts jenseits von Ansprüchen auf Pseudowahrheiten.
Gute Wissenschaftler versuchen über „Versuch und Irrtum“ herauszufinden, was falsch ist, schlechte Wissenschaftler versuchen zu zeigen, dass sie im Recht sind. Von da zur Skrupellosigkeit in der Politik ist es nur ein winziger Schritt.
Das Leben und unsere Erkenntnisse sind meist hypothetisch. Und damit sollten wir uns begnügen. Das Falsifikationstheorem ist das einzige gewaltfreie „Kehrinstrument“, das die Gesellschaft besitzt, um mit falschen Propheten und der Willkür von Machtbesessenen aufzuräumen und den eigenen Geist in Bescheidenheit, d.h. ohne absoluten Wahrheitsanspruch, frei zu entfalten.
PS: Wieso es, wie eingangs angesprochen, nur scheinbar ein Widerspruch ist, dass es in Wahrheit keine Wahrheit gäbe, liegt daran, dass die Aussage ihre eigene Unwahrheit inkludiert. Damit bleibt es im Sinne des Falsifikationstheorems dabei, dass wir nur auf dem Weg der Erkenntnis des Falschen uns dem Wahren zumindest theoretisch annähern können.
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Bravo, das muss immer wieder einmal gesagt werden. Denken in Wahrscheinlichkeiten löst Probleme mühelos…