Print Friendly, PDF & Email

Werner Schandor
Das Patriarchat als Scheinriese
Essay
1. Teil

Bedauerlicherweise liegt die beliebte Kritik am Patriarchat oft daneben. Aber macht nichts: Die dritte Welle des Feminismus hat ohnehin keine wirklich brauchbaren Ideen zur Rettung der Welt auf Lager.

Jede Ideologie hat so ihre Phrasen, mit der sie ideologisches Kleingeld scheffelt und ihre Anhänger bei Laune hält, indem ein nebuloses Feindbild mit einem Begriff vermeintlich dingfest gemacht wird.

Für die Kirche im Mittelalter war das der „Teufel“, für die Nationalsozialisten „das Weltjudentum“ und für die Kommunisten und 68er-Studentenbewegung „die Bourgeoisie“ und „das Kapital“, aus dessen Fängen man „das Proletariat“ befreien wollte. So wie umgekehrt die turboliberalen Wirtschaftshörigen der 90er- und Nullerjahre jede Form von staatlicher Wirtschaftslenkung und Sozialpolitik als Gottseibeiuns sahen.

Gemeinsam ist all diesen Begriffen, dass sie semantische Scheinriesen sind. Was ein Scheinriese ist, hat Michael Ende im Kinderbuch „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ beschrieben: Von der Ferne betrachtet wirft er lange Schatten und wirkt riesengroß; aber je näher man ihm kommt, desto kleiner wird er – bis er schließlich in der Begegnung von Angesicht zu Angesicht auf ein normales Maß schrumpft. (Im Falle des „Teufels“, des „Weltjudentums“ und der kommunistischen Propaganda sind die Begriffs-Scheinriesen bei Tageslicht zu Staub zerfallen wie original transsilvanische Vampire.)


Ein neuer Phrasen-Scheinriese

Neuerlich springt beim Medienkonsum ein neuer Phrasen-Scheinriese ins Auge, ohne den anscheinend kein Text mehr auskommt, der sich fortschrittlich wähnt: das „Patriarchat“.

Gleich wie der „Teufel“, das „Weltjudentum“ oder der „Kapitalismus“ muss auch das „Patriarchat“ für alle möglichen Übel in der Welt herhalten – von der wirtschaftlichen Ungerechtigkeit, unter der Frauen hierzulande zu leiden haben, über die Machtergreifung der Taliban in Afghanistan bis hin zu Kriegsverbrechen in der Ukraine und letztlich sogar zur ökologischen Ausbeutung unserer Welt. Bei all diesen Missständen hätte „das Patriarchat“ seine bösen Finger im Spiel.

Doch wenn man sowohl schlecht bezahlte Sozialberufe und gläserne Decken in westlichen Vorstandsetagen als auch die Unterdrückung persischer und afghanischer Frauen durch islamische Fundamentalisten mit demselben „Patriarchat“ begründet, welchen Erkenntniswert hat dieser Begriff dann noch, der anscheinend weder graduell noch substanziell zu differenzieren vermag? Genau: keinen. Gleich wie die erstgenannten Scheinriesen „Teufel“ und „Weltjudentum“ verschleiert die Rede vom „Patriarchat“ eher die Zusammenhänge, als dass es sie erhellen könnte.


Ein bequemes Argument

So ist es zweifellos richtig, dass bei uns nach wie vor deutlich mehr Männer als Frauen in den Vorstandsetagen von Politik und Wirtschaft sitzen. Aber ob dahinter dasselbe Patriarchat am Wirken ist, das im Schatten des Hindukusch die Frauen aus Schulen, Ämtern und Öffentlichkeit verbannt, darf bezweifelt werden.

Denn während das eine Patriarchat Mädchen und Frauen aktiv vom gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Leben ausschließt, überschlägt sich das andere Patriarchat seit über 25 Jahren förmlich darin, mehr Mädchen und Frauen in karriere-, prestige- und finanzträchtige Technikberufe zu locken, weil die Fachkräfte fehlen.

„Frauen in die Technik“-Initiativen, „Girls Days“, MINT-Aktionen und „FEMtech“-Maßnahmen buhlen um jede junge Frau, die ihre Nase auch nur kurz in ein technisches Studium oder eine technische Lehre stecken möchte. Wenn man sieht, wie sehr da die Mädchen im Zeichen der Gleichstellung umhätschelt werden, kann man sich im Jahr 2022 als männlicher Teenager, der nichts fürs „Patriarchat“ kann, schon mal als Mensch zweiter Klasse vorkommen.

Ebenso schaffen immer mehr Firmen für ihre Fach- und Spitzenkräfte familienfreundliche Arbeitsbedingungen, die vielfach auf Frauen abzielen. Der Erfolg: Statt einer Studentin wie vor 25 Jahren sind es jetzt im Schnitt drei Frauen unter 75 Studenten, die zum Beispiel das Studium Fahrzeugtechnik an der FH in Graz beginnen. (Ich kenne die Zahlen aus eigener Anschauung, ich habe lange an diesem Studiengang unterrichtet.)

Immerhin, wenn man es positiv sehen will, handelt es sich um eine Steigerung von 200 %. Wenn man es allerdings realistisch betrachtet, muss man festhalten: Die „Frauen in die Technik“-Bemühungen über mehr als zwei Jahrzehnte hinweg haben in absoluten Zahlen nur mäßige Veränderungen gebracht.

Ein Beispiel: Laut Wissensbilanz der TU Wien lag der Frauenanteil im Fach Maschinenbau, dem männerlastigsten aller Studien, 2007 bei 6 % (101 Frauen von 1646 Inskribierten), 2020 waren es 12 % (203 Frauen von 1636 Inskribierten). Einen Maschinenbau-Studienabschluss haben anno 2020 insgesamt 17 Frauen (von 188 Absolventen) erlangt. Die können sich dann um „MINT-Award“ für Diplomarbeiten bewerben, der Frauen vorbehalten ist. Für die männlichen Absolventen gibt es selbstverständlich keine eigenen Preise. Die haben ohnehin das „Patriarchat“ auf ihrer Seite.


Was Frauen lieber studieren und die Konsequenzen

Im selben Zeitraum, in dem Technikstudien trotz enormer PR-Bemühungen nur langsam ihre Frauenquoten steigerten, wurden „typisch weibliche“ Studien von jungen Frauen überrannt – etwa Kommunikation & Sprachen, Gesundheits- und Pflegewissenschaften; von Pädagogik und Gender-Studies ganz zu schweigen.

Zu den beliebtesten Studien von Frauen zählen laut Tageszeitung „Presse“: Publizistik: 75 %, Diätologie: 80 %, Dolmetsch: 86 %, Pädagogik: 87 % und – natürlich – Gender-Studies: 90 % Frauen-Anteil. Und das ganz ohne spezifische Werbemaßnahmen für Mädchen, und natürlich auch ohne große Bemühungen, mehr junge Männer in diese Fächer zu bekommen, um einen Ausgleich zu erwirken.

Zu den Absolventinnen dieser Studien zählen dann jene jungen, schlecht bezahlten Journalistinnen, die in den Zeitungen und auf ihren Online-Kanälen über das „Patriarchat“ wettern, welches Frauen ein höheres Einkommen, bessere Karrierechancen und hervorragende Arbeitsbedingungen verwehre.

Ach, hätten sie doch Fahrzeugtechnik oder Maschinenbau studiert und Karriere in einem familienfreundlichen Industriebetrieb gemacht, der seine Mitarbeiter fürstlich entlohnt. Aber oft ist es bequemer, sich auf ein feindliches („patriarchales“) System herauszureden, als selbst in den sauren Apfel eines fordernden Technikstudiums zu beißen.

Oder wie es die Psychologin und Unternehmensberaterin Christine Bauer-Jelinek schon 2012 in ihrem Buch „Der falsche Feind. Schuld sind nicht die Männer“ sinngemäß ausdrückte: Allzu leicht wird übersehen, welche persönlichen Einschränkungen Top-Managern abverlangt werden, wenn sie sich für eine Karriere entscheiden.


Medialer Mainstream-Feminismus

Generell macht sich in österreichischen Medien derzeit ein Mainstream-Feminismus breit, dessen Phrasen ziemlich locker sitzen und dessen Argumente allzu gerne in die immer gleiche „Patriarchats“-Kerbe schlagen.

So gibt es in der steirischen „Kleinen Zeitung“ seit März 2022 eine sonntägliche Feminismus-Kolumne. Im Beitrag vom 24. April schrieb dort die Kolumnistin, die Vergewaltigungen ukrainischer Frauen durch russische Soldaten seien eine Folge „patriarchaler Strukturen“.

 Zitat: „Denn die Botschaft, die hinter strategischen Vergewaltigungen steckt, ist klar: Männer, ihr habt es nicht geschafft ‚eure‘ Frauen zu schützen. Das Patriarchat als Herrschaftsverhältnis zeigt damit seine hässlichste Fratze.“

Man kann es für publizistisch grenzwertig halten, widerwärtige Kriegsverbrechen in der Ukraine für den feministischen Landgewinn in Österreich zu nutzen; andererseits verdeutlicht diese Kolumne die typische Betrachtungsweise der feministischen Wohnzimmerideologie, und die ist recht einseitig: Denn während der Blick auf jene Tausende Frauen gelenkt wird, die Opfer von Verbrechen wurden, verliert die Autorin kein Wort über die Tausenden ukrainischen Männer, die bisher im Kampf gegen die russischen Invasoren starben oder verwundet wurden.

Nach ukrainischen Angaben sind in den ersten 100 Tagen seit dem Einmarsch der russischen Armee 6.000 bis 10.000 ukrainische Soldaten gefallen. In derselben Zeit konnten sich rund 4 Millionen ukrainische Frauen in den Nachbarländern in Sicherheit bringen, während wehrfähigen Männern zwischen 18 und 60 Jahren die Ausreise verweigert wird.


Frauen und Kinder zuletzt?

„Frauen und Kinder zuerst!“, lautet nach wie vor der moralische Leitspruch unserer Gesellschaft in brenzligen Situationen. Daher bringt der Ukraine-Krieg den gängigen Feminismus mit seinen Denkklischees auch deutlich in Bedrängnis: Müsste nicht ein Patriarchat, das Frauen ausbeutet und zu den größten Opfern aller Zeiten macht, umgekehrt den Männern die Flucht ermöglichen und die Frauen an die Front schicken, damit diese die Köpfe hinhalten? – Irgendetwas scheint mit diesem Patriarchat nicht ganz zu stimmen.

Schon in den beiden Weltkriegen desavouierte sich die Männervorherrschaft vor allem selbst: Einerseits, indem sie zig Millionen Männer in brutalen und sinnlosen Schlachten verheizte; andererseits, indem nach den Kriegen die Frauen die gesellschaftliche Rolle der gefallenen Männer übernahmen: Als Trümmerfrauen bauten sie die Republik wieder auf, als Bäuerinnen leiteten sie Landwirtschaftsbetriebe, und als Arbeiterinnen ließen sie erkennen, dass es keinen wirklichen Grund gibt, Frauen rechtlich als Anhängsel des Mannes zu behandeln.

Diesen Missstand zu beseitigen, dafür setzte sich die zweite Welle des Feminismus in den 1960ern bis 1980ern erfolgreich ein. Und es war höchste Zeit dafür.


Ilsebill salzt nach

Die dritte Welle des Feminismus, wie sie sich aktuell in Politik und Medien, aber auch in Gesprächen mit jungen Frauen äußert, knüpft argumentativ an die zweite Welle an, übersieht aber, dass sich die Zeiten geändert haben.

Das Patriarchat ist hierzulande weitgehend abgewrackt, und die Frauen in Westeuropa haben rechtlich und gesellschaftlich mittlerweile eine viel bessere Stellung als noch in den 1970er-Jahren. Vielfach werden sie sogar – siehe Technik-Studien, aber auch als Schülerinnen und als Angeklagte vor Gericht – bevorzugt behandelt.

Doch seltsam: Je besser die Stellung der Frauen, umso lauter werden die Klagen über ihre unerträgliche Benachteiligung. Man fühlt sich ans Märchen vom Fischer und seiner Frau erinnert: Der Fischersfrau war nie genug, was ihr Mann sich vom zaubernden Butt für sie beide wünschte. Nach dem Häuschen musste es eine Villa sein, nach der Villa ein Palast, dann die Königswürde, die Papstwürde und schließlich die Gottesmacht. Und zack, verpuffte der Zauber, und die beiden saßen wieder vor ihrer heruntergekommenen Fischershütte.

Mit „Ilsebill salzte nach“ deutete Günter Grass in seinem Roman „Der Butt“, der an dieses Märchen angelehnt ist, die unheilvolle Steigerungslogik schon im ersten Satz an. Aber das nur nebenbei.

Fortsetzung folgt Donnerstag 18.08.2022

Werner Schandor

Werner Schandor ist Texter und Autor in Graz. Er ist seit 1995 in der PR tätig und hat Lehraufträge am Studiengang „Journalismus und PR“ an der FH Joanneum sowie am Institut für Germanistik der Karl-Franzens-Universität Graz. 2020 erschien sein Buch „Wie ich ein schlechter Buddhist wurde. Essays, Glossen und Polemiken“ in der Edition Keiper, Graz. Weitere Infos: www.textbox.at

Schreibe einen Kommentar