Bettina Maria König
First Love
Fortsetzungsroman
Die erste Liebe vergisst man nicht, sagt man. Ich die meine schon gar nicht. Er hieß Viktor. Ich war eben von meinem bedeutungslosen Heimatort am Land in die aufregende Hauptstadt gezogen, um dort zu studieren. Durch eine Laune meiner Eltern und meines Volksschullehrers, die mich viel zu früh eingeschult hatten, befand ich mich allerdings noch im zarten Alter von 17 Jahren. Denn damals, als ich ein Teenager war, war 17 auf jeden Fall noch zart. Mit dem Umzug in die große Stadt verlor ich – ich gestehe es – vorübergehend den Überblick über mein Leben. Ich war von den vielen neuen Eindrücken und Erlebnissen, die da auf mein noch kindliches Gemüt einstürmten, heillos überfordert. Von meinem Sprachenstudium, aber vor allem von den vielen jungen Männern, die hier herumschwirrten. Woher sollte ich denn wissen, wer es ernst meinte und wer nicht? Und wer von ihnen der Richtige war? Etwa nicht? Das zumindest war meine These, und deshalb erörterte ich die verschiedensten Facetten der Liebe (oder besser, was ich mir als Greenhorn darunter vorstellte) nächtelang in Form von kurzen, romantischen Geschichten. Geheimen romantischen Geschichten natürlich. Sehr geheimen romantischen Geschichten, die ich in einer Schatulle mit Sarah-Kay-Pärchen-Bussi-Motiv in meinem Schreibtisch verwahrte.
Wir kommen zur Überforderung zurück: Wer mich noch heillos überforderte, war Bea. Bea ist meine BFF, die schon seit Schulzeiten mich und mein Leben in- und auswendig kennt. Daheim in meinem Heimatkaff war sie eine spannende Bereicherung meines ereignislosen Landlebens gewesen. Da konnte ich mich immer wieder in den sicheren Hafen des elterlichen Hauses zurückziehen, wenn es – oder vielmehr sie – mir zu viel wurde. Nun, in unserer neu gegründeten WG, so ganz ohne Rückzugsmöglichkeiten, fühlte ich mich von meiner taffen und selbstsicheren Freundin oft überfahren. Schwarz, kurzhaarig und sehr selbstbewusst ist sie genau mein Gegenteil – der Typ: „Girls just wanna have fun“, auch auf Kosten von anderen. Und das nimmt sie auch gerne wörtlich. Ich trau´ mich nur selten zu widersprechen, wenn Bea etwas „vorschlägt“.
Und so war es auch an diesem Abend. Bea hatte sich in den Kopf gesetzt, ins „Filou“ zu gehen, das absolute In-Lokal der Saison. Eigentlich hatte ich keine Lust mitzugehen, aber ein „Nein“ akzeptiert Bea nicht. Und so zwängte ich mich resigniert in meine engsten Jeans, legte viel zu viel Mascara auf und folgte Bea durch die engen Gassen der Altstadt. Sicher würde ich eh nur wieder ein paar urlangweilige Stunden im Schatten meiner Freundin verbringen, die im Gegensatz zu mir großen Erfolg beim anderen Geschlecht hatte. Wenn wir zusammen ein Lokal betraten, fielen die Blicke aller anwesenden Männer sofort auf sie – mich sah keiner an. Obwohl ich blond, langhaarig und blauäugig bin! Da soll einer sagen, alle Männer stehen auf Blondinen! Bis heute weiß ich nicht, woran das lag; ich nehme an, um mich schwebte eine Aura der Schüchternheit, Unsicherheit und unheilbaren Romantik. Und das kommt selten gut an, vor allem bei Männern auf Pirsch. Wir stiegen also die Treppen zu dem Kellerlokal hinab, wurden vom Türsteher eingehend gemustert und dann eingelassen. Links ging es über eine schmale Treppe ins Tanzlokal hinunter, aus dem uns schon laute Musik und Gemurmel entgegenschlug.
Er fiel mir sofort auf. War auch kein Kunststück, denn er saß mit ein paar Freunden gleich am ersten Tisch an der Tanzfläche. Unglaublich hübsch, schwarze Haare, dunkle Augen, stoisch gelangweilter Blick – genau mein Typ. Seine etwas länger getragene Mähne schüttelte er mit einer aufreizend lässigen Bewegung des Kopfes immer wieder nach hinten – eine Bewegung, die mich vom ersten Moment an faszinierte. Vielleicht spürte er, dass ich ihn minutenlang einfach nur angestarrt hatte, vielleicht war es auch Schicksal; naja, jedenfalls blickte er irgendwann auf und sah mich unter ewig langen Wimpern hervor direkt an. Und musterte mich von oben bis unten mit einer an Unverschämtheit grenzenden Offenheit. Mir lief ein Schauer über den Rücken, aber es gelang mir, meinen Blick loszueisen und mich auf Bea zu konzentrieren, die bereits mit zwei Medizinstudenten ein angeregtes Gespräch über die Vorzüge von Wodka Feige führte.
Ich wähnte mich in perfekter Tarnung, als mir von hinten jemand auf die Schulter tippte. Als ich mich umdrehte, stand ein Jüngling vor mir, den ich vorher am Tisch des neuen Angebeteten gesehen hatte. „Viktor“, meinte er mit einer knappen Kopfbewegung zu seinem Freund hin und mit gebührender Herablassung (mein Kükendasein als Erstsemestrige sah man mir wohl an) „möchte dir gerne seine Telefonnummer geben. Du sollst ihn anrufen.“ Damit hielt er mir einen Bierdeckel hin, auf dem jemand achtlos einige Zahlen hingeschmiert hatte. Ich wurde augenblicklich rot, auch weil die Szene inzwischen auch Beas Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Sie schwankte offenbar zwischen Verwunderung und Ärger, warum sich jemand für mich und nicht für sie interessierte. Schnell riss ich dem Burschen den Bierdeckel aus der Hand, brachte noch ein „Danke!“ heraus und entschwand erst mal auf die Toilette. Als ich wiederkam, fand ich Bea auf der Tanzfläche, wo sie einen intensiven Schleicher mit einem jungen Mann tanzte, den ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte (und sie wahrscheinlich auch nicht). Der mysteriöse Viktor und seine Freunde waren verschwunden.
Ich brauchte drei Tage, bis ich mich dazu durchringen konnte, anzurufen. Eigentlich hätte ich das bis heute nicht getan, wenn mich Bea nicht genötigt hätte. „Wenn sich schon endlich mal einer für dich interessiert…“ war ihr Killerargument. Dem konnte ich mich natürlich nicht entziehen. Und so wählte ich mit zittrigen Fingern die Nummernkombination. Es war übrigens eine Festnetznummer, das nur zur Erläuterung. Auch wenn die Jüngeren unter den Lesern vielleicht gar nicht mehr wissen, was das ist. Ich brauchte drei Anläufe, bis ich ihn endlich antraf. Als er abhob, verschlug es mir die Stimme, aber ich erklärte dennoch sehr tapfer, wer ich war und warum ich anrief. Na gut, vielleicht war es weniger Tapferkeit als vielmehr die Bratpfanne, die Bea über meinem Kopf schwang, als sie sah, dass ich Anstalten machte, wieder aufzulegen. „Zervas!“, sagte er in einem entzückenden alemannischen Dialekt – offenbar handelte es sich bei diesem Prachtexemplar von einem Mann um einen Schweizer. „Also so wia du usgschaut haesch im ‚Filou‘, hab‘ ich mir gedenkt, du brennscht sicher uf an Abendessen mit mir!“. Mir stockte der Atem – woher wusste er das? Und wie kam ich zu der Ehre – ich unbedarftes Landei? Sicher umgab er sich sonst nur mit mondänen Studentinnen seines Jahrgangs… Er lud mich also in seine Studentenbude ein, und ich sagte ehrfürchtig zu.
20.00 Uhr, hieß es, und ich war schon um acht Uhr früh in heller Aufregung und löcherte Bea mit der überaus wichtigen Frage, was zum Teufel ich nur anziehen sollte zu so einem lebensverändernden Anlass. Wie immer blieb sie cool: „Jeans, meine Liebe, und ein sexy Oberteil – und ja keinen kurzen Rock!“, war ihr Rat. Ich hielt mich daran, so wie ich immer Beas Ratschläge annahm, freiwillig oder nicht. Die Frau wusste ja sicher, wovon sie sprach, schließlich konnte sie sich vor Verehrern kaum erwehren. Mit Herzklopfen fuhr ich zu Viktors kleiner Wohnung etwas oberhalb der Stadt. Dort herrschte ein heilloses Durcheinander, wie ich gleich an der Tür feststellte. Viktor öffnete in Jogginghosen, einem schmuddeligen T-Shirt und barfuß. Das alles tat aber meiner Begeisterung für ihn keinen Abbruch. Nicht mal, dass es Tiefkühlpizza auf Papptellern gab und Rotwein aus dem Tetrapack. Und dass nur er redete. Er erzählte mir, dass er Volkswirtschaft studiere, das Studium aber eigentlich gar nicht nötig habe. „Ich weiß eh jetzt schon viel mehr als die Professoren jemals wissen werden“, sagte er im Brustton der Überzeugung. Mir stellte er keine einzige Frage, und ich erinnere mich nicht, dass ich außer vielen „Ah’s!“ und „Oh‘s!“ und „Ist nicht wahr!“ viel zum Gespräch beigetragen habe. Mir war das aber einerlei, Hauptsache Viktor sah mich ab und zu mit seinen langbewimperten Augen an.
Wir aßen auf seinem Bett. Das ließ sich irgendwie vielversprechend an und machte mich zuerst ein bisschen nervös, aber die Nervosität legte sich bald, denn er machte keinerlei Anstalten, mit mir zu flirten. Und als ich die Reste der Mahlzeit in die Küche trug, wurde mir klar, weshalb er das Bett für das Diner gewählt hatte: Es war der einzig mögliche Platz. Die Spüle stand voll mit schmutzigen Tellern, Gläsern und Schüsseln, und auch auf dem Küchentisch und den beiden Küchenstühlen stapelte sich bereits gebrauchtes Geschirr. Weil ich ein sehr reinlicher Mensch bin, schnappte ich mir sofort eine Schürze und begann abzuspülen. Ich brauchte an die zwei Stunden. Viktor war unterdessen erschöpft eingenickt. Als ich fast fertig war und die Küche nur so blinkte und strahlte, steckte er gähnend den Kopf durch die Tür und deutete auf eine Ecke: “Ach, du“ – er hatte sich meinen Namen offensichtlich nicht gemerkt – „Da steht noch ein Teller”, sagte er und erklärte mir umgehend, er müsse jetzt lernen und ich deshalb gehen. Zum Abschied gab er mir ein Küsschen auf die Wange und seinen Wohnungsschlüssel “für den Fall, dass ich wieder Lust zum Abspülen verspüren” würde. Dann schob er mich aus der Tür. Ich war überglücklich; das musste Liebe auf den ersten Blick sein. Wieso sonst sollte mir ein Mann beim ersten Date bereits seinen Schlüssel übergeben?
Viktor studierte im dritten Jahr – aber eher im Nebenjob. Seine eigentliche Berufung war das Unternehmen seines Vaters, von dem er bereits jetzt besser wusste als sein Papa, wie es zu führen und auszubauen sei. Diese unternehmerische und intellektuelle Vormachtstellung bestimmte seine Haltung gegenüber seiner Umwelt – und schlug mich in ihren Bann. Ich lauschte atemlos, wenn er mir Vorträge über betriebswirtschaftliche Zusammenhänge und volkswirtschaftliche Auswirkungen hielt – mehr seiner schönen braunen Augen willen als wegen der Worte an sich, von denen ich nicht viel verstand. Und ich konnte ihm nur zustimmen, wenn er zum tausendsten Male betonte, dass nur er dazu fähig sei, das Familienunternehmen in blühende Phasen zu erheben. Dass er sich da wohl geirrt hatte, erfuhr ich übrigens Jahre später; Viktor musste sich bei der Expansion der Firma Richtung Osten wohl etwas übernommen haben und führte den ach so blühenden Betrieb direkt in den Konkurs…
Vorläufig wusste ich aber von all dem nichts und hing weiterhin an Viktors Lippen, die sich ab und zu auch dazu herabließen, mich flüchtig zu küssen. Zu sehr viel mehr war er leider nicht zu verleiten, vielmehr schien es ihm vollkommen zu genügen, ab und zu jemanden um sich zu haben, der ihn vorbehaltslos anhimmelte. Außerdem war er viel zu beschäftigt. Und von Donnerstag bis Samstag bekam ich ihn gar nie zu sehen. Kino? Ausgehen? Ausflüge? Fehlanzeige! Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass ich ab sofort seine Studentenbude in Schuss hielt, für ihn Lebensmittel heranschaffte – selbstverständlich mit meinem Geld -, von Montag bis Mittwoch kochte und mit Hingabe kunstvolle Pullover für ihn strickte. Sonntag sah ich ihn nie, da musste er immer dringend arbeiten. Sagte er. Das ging über Monate so. Abends pflegte Viktor ab und zu Mitstudenten um sich zu scharen – Treffen, zu denen er mich regelmäßig mit einlud, wodurch ich mich als unwissende Erstsemestrige sehr geehrt fühlte. Die Runde saß dann immer angeregt diskutierend um den Tisch, an dem ich ihnen Abendessen servierte, nachher frönten sie flaschenweise dem Rotwein, den ich zuvor besorgt hatte, und rauchten Kette, während alle staunend Viktors klugen Ausführungen lauschten. Mich nahmen sie allesamt nicht wahr, am wenigsten von allen Viktor selbst. Wenn mein Name fiel, dann nur, weil er noch eine weitere Flasche anforderte oder mir mitteilte, ich könne nun abservieren. Aber das war mir alles egal. Es war ja schließlich Liebe, davon war ich überzeugt. Zu meiner Entschuldigung muss ich anführen: Was weiß man schon mit 17 von der Liebe? Zumindest in der damaligen Zeit? Wie sollte ich ahnen, dass das mit der Liebe wohl nur für mich galt und keineswegs für ihn?
Diese Gewissheit verschaffte mir nach einigen Monaten eine langhaarige Blondine namens Renate, die ich eines Tages in Viktors Appartement antraf, als ich gerade mit zwei vollen Einkaufstüten in der Hand die Tür aufgeschlossen hatte. Ich war – entgegen meiner Gewohnheit – ausnahmsweise erst donnerstags gekommen statt mittwochs. Und so nahm das Verhängnis seinen Lauf. Wir starrten uns beide zunächst entsetzt an, bis sich Renate zuerst fasste und mich wütend anzischte, was ich denn hier zu suchen hätte. Ich hielt natürlich dagegen: „Das ist die Wohnung von meinem Freund, also sofort raus mit dir!“ „Spinnst du? Viktor ist MEIN Freund, und zwar schon seit einem halben Jahr! Er liebt mich, und ich werde bald hier einziehen! Er muss das nur noch mit seinen Eltern regeln…“. Mir blieb die Spucke weg, denn genau das hatte der Gute auch zu mir gesagt. Ich unterdrückte also meinen Impuls, ihr die Einkaufstaschen um die Ohren zu hauen, ließ mich auf den soeben von ihr frisch eingeschäumten Diwan nieder und flüsterte mit heiserer Stimme: „Ich fürchte, da stimmt etwas nicht. Lass uns das klären.“ Renate schwante wohl dasselbe, denn sie ließ sich resigniert neben mich fallen.
In den folgenden zwei Stunden kam heraus, dass der gute Viktor offensichtlich ein Doppelleben führte. Montag bis Mittwoch traf er mich, Donnerstag bis Samstag Renate, und Sonntag war wohl sein Ruhetag. Verständlich, bei so viel Action. Dabei hatte er dasselbe Beuteschema berücksichtigt, denn auch ich habe langes, blondes Haar, wenn auch im Gegensatz zu Renate gelockt, und wir sind beide blauäugig – offenbar im wahrsten Sinne des Wortes. Auch Renate hatte einen Schlüssel für seine Wohnung, karrte fleißig Lebensmittel und Getränke an und putzte hingebungsvoll. Ich hatte mich ohnehin schon darüber gewundert, wie sauber es im Gegensatz zu meinem ersten Besuch seit geraumer Zeit bei Viktor war, und hatte mich insgeheim schon darüber gefreut, dass mein reinliches Beispiel wohl ansteckend auf ihn gewirkt haben musste. Wenn ich gewusst hätte… Als Rache beschmierten Renate und ich gemeinsam die Wände mit Ketchup und Schokosoße, streuten Salz und Zucker auf den Boden und begossen die Mischung mit Himbeersirup und Öl. Dazu hörten wir lautstark „I will survive!“, bis die Nachbarn an die Wände klopften. Dann warfen wir unsere Hausschlüssel in den Müll und zogen die Haustür hinter uns zu.
Viktor habe ich nie wiedergesehen. Aber Renate ist bis heute noch eine meiner besten Freundinnen. Ich habe allerdings nie den Mut aufgebracht, sie zu fragen, ob ihre Beziehung zu Viktor auch so platonisch war wie die meine. Mut zur Lücke ist manchmal besser als alles zu wissen.
Als ich zurückkam in die WG, weinte ich mich erstmal bei Bea aus. Sie sagte lapidar: „Ich hab‘ dir doch immer schon gesagt, du sollst die Finger von dem lassen!“, holte dann aber fürsorglich die Kleenex aus dem Badezimmer und versorgte mich mit frischen Tüchern, in die ich meinen ganzen Kummer rotzte. Gleichzeitig flößte sie mir Batida de Coco ein, bis das Zimmer um mich ins Schwanken geriet und die Welt wieder ein bisschen erträglicher wurde. Als ich wieder schwindelfrei war, verarbeitete ich auch meine Erlebnisse mit Viktor zu einer Short Story, die ich wie immer sorgsam in meiner Geheimschatulle verschloss. Ich blieb dann übrigens für ziemlich lange Zeit single.